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Suche nach Identität

"Da ich nicht an gesetzmäßige Entwicklungen und schon gar nicht an politische Ideologien

glaube, kann ich das Spiel des Zufalls kalt verfolgen, sein chaotisches Wirken konstatieren,

ohne irgendwelche Schlüsse ziehen zu brauchen."


 

Dieses Zitat des Protagonisten zeigt bereits zu Beginn des Geschehens, die philosophische Haltung

Efraims. Er glaubt nicht an die Ordnung der Dinge, und geht davon aus, dass alle Entwicklungen in der

Welt aus reinem Zufall hervorgehen. Die Frage nach dem Sinn begleitet die Romanhandlung

durchgängig. Die folgende Darstellung der Vorarbeiten Anderschs, zeigt neben der Darstellung der

Personenkonstellationen auch die philosophische Haltung, die Andersch der Person jeweils zuschrieb.


 

Efraim Schaubild

 

Als Ergebnis seiner Vorarbeiten hält Andersch in dem Schaubild nicht nur die Figurenkonstellation und

den Plot des Romans „Efraim“ fest, sondern auch philosophische Überlegungen. Die philosophische

Weltanschauung des Existentialismus stellte eine wichtige literarische Quelle für Andersch Schreibprozess

dar. In wie weit der Existentialismus und die einhergehende Problemstellung im Roman behandelt

werden, wird am Beispiel des Protagonisten und Ich-Erzählers deutlich.


 

Da die Philosophie der Metaphysik, die sich mit der Wesensbestimmung und der Frage nach Existenz

auseinandersetzt, im Roman eine große Rolle spielt, besetzt Andersch die einzelnen Figuren von

Andersch im Schema stichpunktartig mit philosophischen Begriffen. Zu Efraim (links oben) lässt sich

beispielsweise lesen: „Metaphysik als Flucht aus der Welt – Identitätswunsch". Der Identitätswunsch ist

der Schlüsselbegriff des Romans. So lässt Andersch seinen Protagonisten Efraim fragen: Gibt es einen

Gott? Existiere ich wirklich und kann ich mein Leben bestimmen, oder ist alles nur Zufall?



Efraims Schreibprozess dient ihm dazu eine Position zum Leben und der Existenz des Menschen

einzunehmen. Immer wieder stellt er sich die Frage, ob er seinen Beruf, den Journalismus aufgeben soll.

In wiederkehrender Reflexion problematisiert er sein Dasein als Individuum, als Beziehungswesen und als

heimatloser Intellektueller. Auch seine jüdische Herkunft spielt dabei eine Rolle. Er setzt sich zunehmend

mit seiner Herkunft und der Geschichte seiner Eltern, die im Konzentrationslager umkamen, auseinander.



Dabei wird auch seine Einstellung zum Glauben sichtbar:

Beim Anblick des ungemein schönen Sterbens von Captain Evans habe ich noch angenommen, Worte

wie Fügung oder Los besäßen irgendeinen Sinn; später, als ich erfuhr, wie meine Eltern umgekommen

sind, gab ich diese lächerliche Annahme auf, gleichzeitig mit den letzten Resten meines Glaubens an ein

höheres Wesen. Angesichts von Auschwitz will ich zur Ehre Gottes annehmen, daß es ihn nicht gibt und

zur Ehrenrettung jener Göttern die es sicherlich einmal gegeben hat und vielleicht noch in irgendeinem

vergessenen Winkel von Zeit und Raum dahinvegetieren, daß nichts mehr in ihrem Schoß verborgen

liegt."



Der Existenzialismus fokussiert auf das Wesen des Menschen und seiner Bestimmung. Wenn die Existenz

dem Wesen voraus geht, so eine Leitthese Jean-Paul Sartres, dann ist es dem Menschen nicht vergönnt

sein Wesen selbst zu bestimmen. Am Ende des Romans verdeutlicht Efraim seine endgültige Einstellung

zum Leben und zur Zufallstheorie:


In der Via Sistina blieb ich plötzlich stehen weil ich begriff, daß ich sogar mich selber aus diesem Juden

und englischen Journalisten deutscher Abstammung, der ich bin, in ein gänzlich anderes Wesen hätte

verwandeln können. Alle möglichen Masken für mich fielen mir ein, während ich weiterging. Als ich auf

den Platz vor der Kirche Trinità dei Monti kam, habe ich lange, auf die steinerne Balustrade gestützt, die

Treppe hinabgeblickt und mir überlegt, ob ich mein Buch noch einmal gänzlich umschreiben sollte. Meine

philosophische Marotte fiel mir ein: wenn alles auf Zufall beruhte, wenn ich, worauf ich das ganze Buch

hindurch so ermüdend insistiert habe, ebensogut wie ich Jude, Engländer und Deutscher war, auch

Italiener oder Neger oder ein Wolf oder ein Auto hätte sein können, dann wäre es nicht nötig gewesen

mich so zu demaskieren, wie ich mich in der Tat demaskiert habe."


 

Efraim geht also davon aus, dass die menschliche Existenz auf Zufall beruht und es keine Rolle spielt, ob

er dem Journalismus weiterhin nachgeht, oder etwas anderes tut. Er sieht die Frage nach der Existenz

als Flucht aus seinem Alltag.


 

Aber der gleiche Gedanke verhalf mir dann auch dazu, einer Arbeit zu entrinnen, zu der Ich keine Lust

mehr hatte. Wenn es gleichgültig ist, wer ich bin, dachte ich, kann ich auch ich bleiben. Vielleicht ist

unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste. Vielleicht, fiel mir zuletzt ein, - aber

ich wies diesen Gedanken erst einmal als unlogisch ab, und später betrachtete ich ihn als

Taschenspielertrick -; vielleicht ist es sogar gleichgültig, ob ich überhaupt geschrieben habe, oder ob ich

geschrieben worden bin?"


 

In der letzten Frage Efraims, steckt der Wunsch nach einem Identitätsempfinden des Protagonisten.

Obwohl es so scheint, als hätte Efraim sich darauf festgelegt, dass das Leben keinen Sinn hat, besinnt er

sich darauf den Sinn im Zufall des Lebens zu suchen. Wenn es gleichgültig ist, was aus ihm geworden ist

– so Efraim – dann kann er genauso gut auch so weiter leben wie bisher, denn vielleicht sei das "Ich"

doch die beste von allen Identitäten, die er hätte werden können.