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Wie meine Masterarbeit zur onlinebasierten Kommunikation über vegane Ernährung mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat…

05.10.2020: Irina Rohe ist frischgebackene Master of Science. Nach dem Bachelor in Ökotrophologie, blieb sie an der Justus-Liebig-Universität, um ihren Master in Ernährungswissenschaften zu machen. Diesen hat sie nun erfolgreich abgeschlossen mit ihrer Masterarbeit zum Thema „Die onlinebasierte Kommunikation über vegane Ernährung durch ProVeg-Germany und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung."

Es könnte so einfach sein

 

ErnährungsexpertInnen schreiben ihr Wissen nieder, die LeserInnen der Zielgruppe fühlen sich angesprochen, überfliegen nickend die Texte und sind mit allem einverstanden was empfohlen wird.
In der Realität scheitert diese Vorstellung jedoch oft schon auf einer grundlegenden Ebene, die innerhalb meiner Masterarbeit beleuchtet wird.
Ernährung ist so viel mehr als die reine Erfüllung physiologischer Bedürfnisse. Das ist keine neue Erkenntnis und wurde beispielsweise schon von Mauss (2001) mit schlauen Worten festgehalten. Der von ihm geprägte Begriff des sozialen Totalphänomens beschreibt ziemlich genau, dass Essen in allen Bereichen unseres Lebens eine wichtige Rolle spielt. Dennoch kommt es mir vor als wäre Ernährungskommunikation ein Bereich, dem man im Studium der Ernährungswissenschaften bewusst oder unbewusst aus dem Weg gehen kann. In einigen Modulen hören StudentInnen zwar, dass es nicht reicht, nur dass theoretische Wissen um gesunde Ernährung zu vermitteln, aber was heißt das eigentlich? Wieso ist Ernährungskommunikation oft nicht zielführend, selbst wenn die Zielgruppe bekannt ist?

Eine Möglichkeit, tiefer in die Materie einzusteigen, wurde mir erst ganz zum Ende meines Studiums nähergebracht. Im Modul Qualitative Methoden wurden rekonstruktive Methoden genau beleuchtet und die Teilnehmenden angehalten, sich auch mit wenig genutzten Forschungsansätzen zu beschäftigen. Tatsächlich war die Soziologie der Konventionen, die ich gemeinsam mit einer Kommilitonin im Laufe des Modules verstehen und vorstellen sollte, ein für mich komplett neues Gebiet. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich mich gefragt, ob eine Theorie relevant sein kann, zu der man nicht einmal einen englischsprachigen Wikipedia-Beitrag finden kann.

 

Hinter der Soziologie der Konventionen verbirgt sich ein praktisch orientierter Ansatz

 

Agierende sind in zwischenmenschliche Interaktionen immer diversen Unsicherheiten ausgesetzt. Die Soziologie der Konventionen gibt eine Erklärung dafür, wie diese überwunden werden können, sodass beispielsweise zielführende Kommunikation möglich wird. Grundgedanke ist, dass Menschen auf Konventionen zurückgreifen, um nicht jede kleinste Aktion neu einordnen zu müssen, sondern Verhaltensregelmäßigkeiten zu haben. Die Konventionen sind also eine Art Wertigkeitsraster oder eine Rechtfertigungsordnung, die immer dann herangezogen wird, wenn Menschen sich vor sich selbst oder anderen rechtfertigen müssen (Diaz-Bone 2011). So gibt es zum Beispiel die von Boltanski und Thévenot (2011) etablierte Konvention der Bekanntheit, in der Handeln immer dann als gerechtfertigt gilt, wenn dadurch die Popularität gesteigert wird.
Im Alltag treffen verschiedenste Konventionen aufeinander, die sich ergänzen aber auch widersprechen können. Zudem greifen Agierende nicht zwangsläufig immer auf die gleiche oder nur auf eine Konvention zurück. Es kann also schnell dazu kommen, dass Konflikte entstehen. So können Agierende hinterfragen, ob bestimmte Konvention überhaupt als Bewertungsgrundlage dienen sollten und so deren Berechtigung komplett anzweifeln. Auch die Art und Weise, wie überprüft wird, ob erreicht wurde, was innerhalb der Konvention angestrebt und als positiv gesehen wird, kann hinterfragt werden (Diaz-Bone 2011). So können auch innerhalb einer Konvention Konflikte entstehen. Für anschlussfähige Kommunikation ist es notwendig, die vorherrschenden Konventionen und Konfliktpotenziale zu erkennen.

Vermutlich gerade, weil ich nichts zur Anwendung der Soziologie der Konventionen innerhalb der Ernährungskommunikation finden konnte und meine Recherche oft Detektivarbeit war, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Ich habe es zum theoretischen Hintergrund meiner Masterarbeit gemacht. Innerhalb dieser wird die Kommunikation eines Diskurses beleuchtet, der sehr von Widersprüchen und Konflikten geprägt ist, um herauszufinden, wie die Kommunikation zielführender gestaltet werden kann. Ich habe onlinebasierte Kommunikation über vegane Ernährung betrachtet. Anhand der Webseiten zweier Organisationen wurde in der Arbeit herausgearbeitet, wie Informationen an VeganerInnen kommuniziert werden. Es war gleichzeitig das Beste und Anstrengendste an der Arbeit, dass ich gezwungen war, neue Wege einzuschlagen. Ich musste eine nachvollziehbare, sinnvolle und reproduzierbare Methode entwickeln, um die Konventionen in den analysierten Texten zu identifizieren. Letztendlich konnte ich acht Konventionen mit spezifischen Schlüsselbegriffen identifizieren und detailliert betrachten. Dabei zeichnete sich im Laufe der Analyse sehr deutlich ab, dass es eine Hausforderung ist, alle Konventionen einzubeziehen, die VeganerInnen zur Auswahl ihrer Lebensmittel heranziehen. Vor allem Konventionen, die eine rein objektive Bewertung erschweren und eher „emotional“ gesteuert sind, werden vernachlässigt. Dabei spielen für VeganerInnen gerade Genuss oder Vermeidung von Leid anderer Lebewesen eine große Rolle bei der Lebensmittelwahl und sollten nicht außen vor gelassen werden. Konflikte werden häufig ignoriert, anstatt einen stabilen Umgang zu finden und beispielsweise Gemeinsamkeiten zu betonen.

 

Letztlich lassen sich Konflikte nie komplett vermeiden

 

Es ist jedoch von Bedeutung, dass sich die Kommunizierenden dessen bewusst sind. Organisationen, die Informationen und bestimmte Vorstellungen von Ernährung anschlussfähig weitergeben möchten, müssen ihre Kommunikationsstrategie dementsprechend anpassen. Ein nächster Schritt wäre nun beispielsweise, die Organisationen zu fragen, ob sie sich der Konventionen, in denen sie kommunizieren, überhaupt im Klaren sind. Wie verändern sich Kommunikation an die gleiche Zielgruppe im Zeitverlauf? In welchen Konventionen kommunizieren Privatpersonen oder Influencer über vegane Ernährung? Welche Konventionen finden sich innerhalb einer anderen Zielgruppe, beispielsweise der überzeugten FleischesserInnen?

Im Laufe meiner Thesis habe ich mir meine Frage, ob die Soziologie der Konventionen in der Ernährungskommunikation sinnvolle Anwendung finden kann, ganz klar beantwortet: Es braucht keinen Wikipedia-Beitrag um ein Thema anzugehen und relevante Erkenntnisse zu gewinnen. Weniger Fragen als vorher habe ich dadurch jedoch nicht. Aber andere. Allerdings ist es wohl genau das, was Forschung ausmacht.



Literatur

 

Boltanski, Luc; Thévenot, Laurent (2011): Die Soziologie der kritischen Kompetenzen. In: Rainer Diaz-Bone (Hg.): Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie. Frankfurt: Campus (Theorie und Gesellschaft, 73), S. 43-68.

Diaz-Bone, Rainer (2011): Einführung in die Soziologie der Konventionen. In: Rainer Diaz-Bone (Hg.): Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie. Frankfurt: Campus (Theorie und Gesellschaft, 73), S. 9-41.

Mauss, Marcel (2001): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 743).