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Wahlthemen 2002

2001-2002



Wahlthemen 2002Wahlthemen.de war zur Bundestagswahl 2002 die erste Plattform zur politischen Bildung. In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und politik-digital.de wurde das Konzept einer Debattenplattform zum Bundestagswahlkampf 2002 entwickelt.
Wahlthemen.de wurde 2002 mit dem Europrix in der Kategorie Citizens, Democracy and eGovernment ausgezeichnet.
Eine virtuelle Presseschau fing die Stimmen zum damaligen Sieg ein:
Die Pressemitteilung der JLU Giessen

 


Wahlinformation als Internet-Diskurs

Zu den interaktiven Formaten, die mittlerweile zur Standardausstattung politischer Websites gehören, zählen Newsletter, Diskussionsforen, Chats, Abstimmungs-Tools zu aktuellen Fragen, reichhaltige Download-Bereiche für Text-, Bild- und Tondokumente sowie Entertainment-Angebote mit Online-Grußkarten, Spielen und Flash-Animationen wie beispielsweise auf dem SPD-Portal „Nicht regierungsfaehig“ oder beim „Bundesdance“ auf der Homepage der Süddeutschen Zeitung. Gemein ist diesen Ausstattungsmerkmalen vor allem ihre pflichtbewusste Bereitstellung als unverzichtbares Element der Online-Kommunikation und ihr instrumenteller Charakter im Sinne der Aufmerksamkeitslenkung und User-Bindung.
Bereits die Verknüpfung von Hintergrundinformationen, aktuellen Themen sowie Foren und Chats ist keine Selbstverständlichkeit und der Einsatz von Spiel- und Abstimmungs-Tools ist in der Regel eine sich selbst genügende Veranstaltung. Während das Internet im Online-Wahlkampf 2002 auf der Ebene der internen Parteienkommunikation im Rahmen der Wahlkampforganisation und zur Mitgliedermotivation als zentralistisches Distributionsmittel gute Dienste leistete, sind solche Ambitionen bei Angeboten zur interaktiven Wählerkommunikation noch zu vermissen. Das scheint jedoch weniger an den Erwartungen und der Bereitschaft der Nutzer als am Willen der parteipolitischen Akteure zu liegen. Nimmt man die als interaktiv firmierenden Formate genauer in Augenschein, lassen sie bereits unter dem Aspekt der Benutzerfreundlichkeit, Moderation und Pflege zu wünschen übrig. Und wenn man sich einmal die Mühe macht an die Wahlkampfzentralen oder einzelne Politiker eine direkte Anfrage zu stellen ist - Ausnahmen bestätigen die Regel - von langen Wartezeiten zu berichten. Wenn man denn überhaupt eine Antwort erhält. So entsteht der Eindruck, dass trotz der anders lautenden Intention die Rückkanalfunktion solcher Angebote im Sinne eines interaktiven Diskurses, der Wünsche, Anregungen und Fragen der Wähler kommuniziert, nicht wirklich erwünscht ist. Das Internet funktioniert hier nach wie vor als Wahlkampfkommunikation von oben. Eine Partizipation im Sinne deliberativer Themendiskussionen findet nicht statt. Die Kommunikation beschränkt sich hier letztlich auf die Motivation zu Urnengang und Stimmabgabe.

Von der Netzkultur lernen heißt interaktiv werden

Das Internet bietet aber durchaus große Chancen für die kritische Information und Diskussion von Themen sowie die direkte Auseinandersetzung mit den Kandidaten im Sinne einer neuartigen, anspruchsvollen und interaktiven Wählerbildung und -motivation. Eine Reihe von Beispielen der politischen Online-Kommunikation zeigt, dass eine Erweiterung und ein - wenn auch experimentelles - Ausagieren von politischer Kommunikation und Partizipation über das Internet möglich ist, sofern für Akteure und Aktionsformen, die außerhalb parteipolitischer Organisation stehen, eine Öffnung stattfindet. Beispiele hierfür finden sich bei virtuellen Ortsvereinen (www.wov.de) und Parteitagen, bei Formen des Online-Protests oder in Online-Politiksimulationen. Besonders bei Community-orientierten Angeboten wie der Online-Politiksimulation democracy online today (http://www.dol2day.com) werden interaktive Aktions- und Partizipationsformate wie Themenabstimmungen, Wahlen, Programmdiskussionen, Parteigründungen sowie Ein- und Austritte in einem spielerischen Kontext ausagiert, der für eine interaktive Kommunikationskultur von Parteien oder Regierungsorganen durchaus beispielhaft ist. So hat die CDU für ihr interaktives Wahlwerbespiel „wahlkreis300“ Idee und Konzept von dol2day schlichtweg kopiert, was in der Online-Szene zu herber Kritik führte.

Andere Beispiele für eine erfolgreiche Entwicklung und Nutzung interaktiver Formate der Online-Kommunikation, die den isolierten Einsatz der im Internet etablierten Mittel wie Mail, Forum und (Video-) Chat zu überwinden suchen, sind virtuelle Konferenzen. Hierbei werden die Web-Instrumente nicht einfach verkoppelt, sondern vor allem der Dramaturgie des Konferenzformats angepasst. Unter den Bedingungen digitaler und interaktiver Medien kommt es damit einerseits zu einer De-Temporalisierung und De-Lokalisierung des Ereignisses und durch eine zielführende Moderation kann andererseits eine intensive Bezugnahme der Text-/ Wortbeiträge gewährleistet werden.

Idee und Konzept

Die Informations- und Debattenplattform www.wahlthemen.de ist das Resultat des Kooperationsprojekts „Online-Wahlkampf 2002“ zwischen der Bundeszentrale für politische Bildung, politik-digital.de (Redaktion) und dem ZMI (Konzeption und Projektleitung). Als prominenter Medienpartner für die Präsentation des innovativen Chat-Formats („virtuelles Podium“) konnte tagesschau.de gewonnen werden. Das Projekt wurde seitens des ZMI von der Sektion I - E-Business/Politics/Government in vier Phasen umgesetzt. Einer Machbarkeitsstudie von Juli bis September 2001 folgte im November und Dezember 2001 die Konzeption und Projektentwicklung. Von Januar bis Juni 2002 wurde an der technischen Umsetzung und inhaltlichen Planung gearbeitet, daran schloss sich von Juli bis Oktober 2002 die redaktionelle Betreuung und wissenschaftliche Begleitung an.
Zielsetzung war es ein wahlkampfbegleitendes Onlineangebot zu schaffen, das

  • die Möglichkeit von Information, Kommunikation und Partizipation bietet,
  • kontroverse Positionen darstellt,
  • zugleich ausgewogen, neutral und seriös ist,
  • hochwertige und tiefgehende politische Hintergrundinformationen vermittelt,
  • Inhalte nicht nur präsentiert sondern auch neu generiert,
  • eine innovative Visualisierung politischer Themen und Diskurse ermöglicht,
  • nachhaltig ist,
  • Junge interessiert und Ältere nicht irritiert.


Eine anspruchsvolle Aufgabenstellung, die angesichts der bisher existierenden Angebote mit ihrer spezifischen Informations- uns Diskussionskultur nicht nur bei Netzkritikern für Skepsis gesorgt hätte. Die Konzeptentwicklung konzentrierte sich daher sehr schnell auf die Realisierung einer themenorientierten Debattenplattform. Dabei sollte durch die gezielte Kombination und phasenversetzte Anordnung von Hintergrundinformation, Foren, Chats und Abstimmungs-Tools ein zielorientierter Diskussionsprozess geschaffen werden. Durch eine in das Design der Website integrierte Phasennavigation einerseits und eine Schwerpunktlegung auf Redaktion, Moderation und Event-Organisation andererseits kann für die einzelnen Themendebatten eine Dramaturgie vorgegeben werden, die den Usern sowohl unterschiedliche Einstiegs- und Interaktionsmöglichkeiten bietet als auch für Abwechslung und Stringenz sorgt.

Realisierung

Der Zielsetzung entsprechend wurden bei wahlthemen.de einerseits hochwertige und ausgewogene Informationen zu den zentralen Wahlthemen wie Arbeitsmarkt- und Wirtschaftpolitik, innere und äußere Sicherheit oder Familien- und Sozialpolitik angeboten. Die Oberthemen: „Arbeit oder nicht? Sicher oder frei? Global oder Lokal? Alt oder jung? Politik oder Show?“ bildeten andererseits aber auch den Ausgangspunkt für Themendiskussionen, bei denen die Expertenmeinungen von Verbandsvertretern und Wissenschaftlern auf die Meinungen und Kommentare von Bürgerinnen und Bürgern treffen. So haben beispielsweise Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, Prof. Dr. Günther Schmid vom Wissenschaftszentrum Berlin und Dr. Lothar Funk vom Institut der deutschen Wirtschaft mit ihren Statements die Diskussion zum Thema Arbeitsmarkt eröffnet. Die User können sich aber auch mit eigenen Themen- und Expertenvorschlägen an das Redaktions-Team wenden, wenn ihrer Meinung nach wichtige Aspekte und Positionen noch nicht repräsentiert sind. Die sich daran anschließenden offenen Debatten zeichneten sich durch eine innovative Visualisierung aus, die Thesen und Kommentare nach Pro und Kontra gruppierten. Eine Auswertung der zentralen Thesen und eine Bewertung der wichtigen Fragen durch die User leiteten dann zum Höhepunkt des Diskurses über, bei dem sich zwei Politiker in einer „virtuellen Podiumsdiskussion“ gegenüberstanden und sich den kritischen Fragen und Live-Kommentaren ihrer potenziellen Wähler stellen mussten. So lieferten sich der Hessische Ministerpräsident Koch und sein rheinland-pfälzischer Kollege Beck ein virtuelles Duell zum Thema Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik. Darüber hinaus gehörten Basisinformationen zu Wahlen und ein Newsletter zum Angebot von wahlthemen.de.

Durch diese Integration von Themen, Akteuren und verschiedenen Optionen der Netzkommunikation in einem moderierten und strukturierten Diskussionsprozess sollte eine informative und innovative Form von „Internet-Diskursen“ entwickelt werden. Mit dieser Ausrichtung wurden aber nicht nur Qualitätsmerkmale der Online-Kommunikation wie Vernetzung, Nachhaltigkeit und Interaktivität betont, sondern es wurde auch bewusst ein Kontrapunkt in die zu Wahlkampfzeiten besonders erregte Medienlandschaft gesetzt. Die im emphatischen Sinne „politische“ Notwendigkeit des Projekts wird vielleicht am deutlichsten mit Blick auf die TV-Duelle zwischen den Kanzlerkandidaten sichtbar.

Internet-Diskurs als Wahlkampfkritik

Ein Konglomerat aus Medien und Politik hat hier ein in jedem Fall modernes, möglicherweise auch wichtiges Wahlkampfinstrument entdeckt. Auch die Zeitungen sind auf die Duell-Formate eingestiegen und haben als erste vorgeführt, was später auf den TV-Bildschirmen zu erwarten war. Zunächst wurde auf der Ebene von Medienmachern und Wahlkampfmanagern eine Dramaturgie ausgeklü(n)gelt, die von der äußeren Erscheinung bis zur inhaltlichen Gestaltung nichts dem Zufall überließ. Vor den Augen der ohnmächtigen Zuschauer wurde dann ein politisches Show-Spektakel inszeniert, das vor allem authentisch und spontan wirken sollte. Die Personalisierung, Medialisierung und Inszenierung des Wahlkampfes hat damit auch in Deutschland einen neuen Höhepunkt erreicht. Bedenklich ist dabei einerseits das Auftreten öffentlich-rechtlicher wie privater Medien als aktiver Wahlkampfakteure. Andererseits bleibt der Wähler mit seinen Interessen, Fragen und Kommentaren weitgehend außen vor. Dass es auch in dieser Hinsicht von den Vereinigten Staaten zu lernen gilt, zeigt beispielsweise die „Commission on Presidential Debates“ (http://www.debates.org), die eine kritische öffentliche Begleitung des Fernsehwahlkampfes gewährleistet.

Dieser Ansatz wurde beispielsweise mit der „Kommission zu den Kanzlerdebatten“ durch das Adolf Grimme-Institut und das ZMI aufgenommen, die die TV-Duelle mit einer Veranstaltungsreihe kritisch begleitet haben. Bei wahlthemen.de wurden diese Aspekte unter dem Oberthema „Politik oder Show?“ diskutiert, das sowohl die Kritik des Medienwahlkampfes als auch das „legitime Theater“ der Politik sowie illegitime Erscheinungsformen wie Skandale und Korruption umfasste.
In dieser Konstellation zwischen politischem Entscheidungsraum und interessierter politischer Öffentlichkeit ist wahlthemen.de ein Experiment und Testfall für das, was in der Politikwissenschaft inzwischen als „Internet-Diskurs“ bezeichnet wird, nämlich die möglichst unmittelbare Verkoppelung von Bürgerinteressen und politischem System unter Einsatz anspruchsvoller, interaktiver Medienformate. Am Ende dieser gerade erst beginnenden Entwicklung steht die Vision einer „Regierung durch Diskussion“, also der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen aus dem Geist und über den Weg der kontroversen öffentlichen Auseinandersetzung mit fairen, transparenten und demokratisch legitimierten Mitteln. Über eine Million Pageviews und 1200 Teilnehmer an den Chats und Debatten zeugen davon, dass insbesondere in der heißen und medial umkämpften Wahlkampfphase eine Nachfrage für vertiefende und diskursive Angebote besteht.

 

Literatur

  • Bieber, Christoph: Politische Online-Inszenierungen. In: Kleinsteuber, Hans-J. (Hg.): Aktuelle Medien-Trends in den USA. Wiesbaden 2001. S. 265-279.
  • Bremer, Claudia/Fechter, Mathias (Hrsg.): Die Virtuelle Konferenz - Neue Möglichkeiten für die politische Kommunikation Grundlagen, Techniken, Praxisbeispiele. Essen 1999.
  • Hebecker, Eike: Digitale Delegierte? Funktionen und Inszenierungsstrategien virtueller Parteitage. In: Alemann, Ulrich von/Marschall, Stefan (Hg.): Parteien in der Mediendemokratie. Wiesbaden 2002. S. 232-255.
  • Hebecker, Eike: Das politische System von dol2day: Die Schule der E-Demokratie? In: Bieber, Christoph (Hg.): Parteipolitik 2.0. Der Einfluss des Internets auf parteiinterne Kommunikations- und Organisationsprozesse. Bonn2001. S.114-127.
  • Thimm, Caja/Schäfer, Holger: Politische Kommunikation im Internet: Hyper-Textsorten und politische Semantik im Online-Wahlkampf. In: Diekmannschenke, Hajo/Meissner, Iris (Hg.): Politische Kommunikation im Internet: Hyper-Textsorten und politische Semantik im Online-Wahlkampf. Tübingen 2001. S. 199-223.
  • Westermayer, Till: Zur Funktionsweise virtueller Parteitage. In: Bieber, Christoph (Hg.): Parteipolitik 2.0. Der Einfluss des Internets auf parteiinterne Kommunikations- und Organisationsprozesse. Bonn 2001. S. 48-71.



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