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Quitte

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

 

 

 

Quitte, Inv. T I-54

Fundort: unbekannt.

Provenienz: aus der Sammlung Evangelos Tataris, Friedberg.

 

Hohl. Oberer Abschnitt aus der Matrize, der untere von Hand angefügt, nicht ausgearbeitet, geglättet. Langer Riss am Übergang vom mittleren zum unteren Drittel. Kleinere Bestoßungen. Oberfläche zum Teil grob gereinigt. Stellenweise flächige Sinterreste.

Hellbraun, 10 YR 6/5. Weiße Engobe, keine Farbspuren. 

Maße: H: 4,5 cm; Dm 5,2 cm.

Lit.: M. Recke, Neues aus der Antikensammlung Gießen – Jahresbericht 2012-2013, Dezember 2013, 19 Abb. 2 b.

 

 

Beschreibung: Der sphärische Gegenstand ist in der oberen Hälfte durch vertikale Rillen in fünf Sektoren gegliedert. Oben in der Mitte befindet sich in einer flachen Einsenkung ein etwa 4 mm großes Loch mit glattem Rand. 

 

Interpretation: Die senkrechten Zäsuren, die das rundliche Objekt in annähernd gleich große Abschnitte teilen, sprechen dafür, dass es sich um eine Quitte handelt. Zwar kann auch ein Granatapfel flache vertikale Einziehungen aufweisen, doch fehlt der für die Frucht übliche dicke Blütenstand[1].

 

In antiken griechischen und lateinischen Zeugnissen wird die Quitte "kydonischer Apfel" – μῆλον  κγδώνιον - malum cydonium – genannt[2] . Doch die Autoren beschränken sich häufig auf die Kurzform μῆλον – Apfel, auch wenn andere apfelähnliche Baumfrüchte, sogar Granatäpfel, gemeint sind. Ebenso unscharf ist bis heute die Unterscheidung ihrer Nachbildungen[3]. Quitten und Granatäpfel galten gleichermaßen als Sinnbilder der Liebe und Ehe, der Fruchtbarkeit und Unsterblichkeit [4]. Weit über den Mittelmeerraum hinaus verbreitet wuchsen sie gemeinsam mit Weinreben in den Gärten der Nymphen[5].

 

Nachbildungen der Früchte schmücken Reliefs[6] und Münzen[7], Wandgemälde[8] und Vasenbilder[9]. In Form rundplastischer Terrakotta-Votive  gab man sie den Verstorbenen mit ins Grab und weihte sie in Heiligtümer; so in Attika, Böotien und Olynth, auf den ägäischen Inseln, an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste, vor allem aber auf der Apenninenhalbinsel[10]. Einzelne Stücke kamen in Wohnbezirken zutage[11], wo sie vermutlich in häuslichen Kulten verwendet wurden.

 

Die rundplastischen Quitten sind in sechs, fünf oder vier Sektoren gegliedert[12]. Aus einer umfangreichen Zusammenstellung der verschiedenen Ausfertigungen – deren Mitteilung würde den Textrahmen an dieser Stelle sprengen – geht hervor, dass die in sechs Sektoren geteilten Ton-Früchte ausschließlich auf der Apenninen-Halbinsel gefunden wurden, während die Exemplare mit fünf und vier Sektoren sowohl von dort als auch aus dem griechischen Kernland bzw. von den Inseln stammen.     

 

Mit fünf Sektoren gehört die Gießener Quitte, so weit sich das  bisher beurteilen lässt, zur umfangreichsten Gruppe ihrer Art. Die Herkunft aus einer griechischen Privatsammlung lässt keinen Rückschluss auf die Entstehungslandschaft zu. In der Form ähnelt das Stück sowohl Exemplaren aus Rhodos[13] und Rhitsona/Böotien[14], als auch solchen aus Tarent[15] und Etrurien[16]. Von einer Parallele in Hannover ist der Fundort nicht bekannt[17]. Die Tonfarben – bei T I-54 ein helles Braun – geben ebenfalls keinen sicheren Hinweis.      

In stilistischer Hinsicht ist das Stück durch mäßig tiefe Rillen gekennzeichnet, die sich von einem dreieckigen Querschnitt aus in die Wölbung der Sektoren hinein fortsetzen. Die genannten Beispiele zeigen ähnliche fließende Übergänge zwischen Einsenkungen und plastischen Wölbungen. Dagegen sind bei einer Quitten-Gruppe aus dem Hera-Heiligtum in Paestum die Kerben entweder tief in die glatte Rundung der Oberfläche eingeschnitten oder breit und flach eingegraben, sodass eine eher graphische Wirkung entsteht[18]. Der Fund ist nach dem Kontext etwa an das Ende des 5. bzw. an den Beginn des 4. Jhs. v. Chr. datiert. Die Quitten aus Centuripe[19] sind, ebenso wie die aus demselben Grab geborgenen Tongefäße und Statuetten, am Ende des 3./Anfang 2. Jhs. v. Chr. entstanden. Sie ähneln dem Gießener Exemplar zwar in den Konturen, doch unterscheiden sie sich von ihm durch zusätzliche vertikale Inzisionen – jeweils zwei bis drei pro Sektor – die oben am Stielansatz beginnen und nach kurzem Verlauf wieder enden.

Einordnung: Die Ähnlichkeit mit Früchten aus den Gräbern in Rhitsona/Böotien, die Ende 6./Anfang 5. Jhs. v. Chr. zu datieren sind [20], lässt etwa dieselbe Entstehungszeit auch für das Exemplar Gießen T I-54 vermuten, während die Landschaft, in der die Quitte gefertigt wurde, derzeit nicht näher zu bestimmen ist.



[1] Vgl. S. Bianco – M. Tagliente, Il Museo Nazionale della Siritide di Policoro (Bari 1993) 135 Abb. 2 a. b. Clara Rhodos 4, 1931, 120 Abb. 110, 2; F. Muthmann, Der Granatapfel (Bern 1982) 59 Abb. 44. 45, S. 62 Abb. 48.

[2] S. Dörr, ΜΗΛΟΝ ΚΥΔΩΝΙΟΝ (Malum cydonium) – Quitte oder Apfel? Hermes 123, 1995, 341 f.; L. Frey-Asche, Tonfiguren aus dem Altertum. Antike Terrakotten im Museum für Kunst und Gewerbe (Hamburg 1997) 64-66.

[3] z.B. unter vielen anderen: "Apfel", R. A. Higgins, Cat. of the Terracottas in the Department of Greek and Roman Antiquities, British Museum I (London 1954) 80 f. Nr. 198-200 Taf. 34; "Quitte oder Apfel", P. N. Ure, Aryballoi and Figurines from Rhitsona in Boeotia (Cambridge 1934) 72 Taf. 18; "Granatapfel", H. Baumann, Pflanzenbilder auf griechischen Münzen (München 2000) 33 Abb. 57, dagegen "Quitte" 51 Abb. 118; "Granatapfel", M. Bell, Morgantina Studies (Princeton 1981) 228 Nr. 897 Taf. 134; "Apfel", Chr. Reusser, Etruskische Kunst Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig.(Basel 1988) 82 Nr. E 115:

[4] J. Trumpf, Kydonische Äpfel, Hermes 88, 1960, 16.19; L. Frey-Asche, ΠΟΛΛΑ ΜΕΝ ΚΥΔΩΝΙΑ ΜΑΛΑ, in: H. Büsing – F. Hiller (Hrsg.), Bathron. Heinrich Drerup zu seinem 80. Geburtstag (Saarbrücken 1988) 135-140 Abb. 1. 2.

[5] So überliefert es der aus Rhegion (Reggio Calabria) stammende Dichter Ibykos, Mitte des 6. Jhs. v. Chr. Trumpf a. O. 14; Frey-Asche a. O. 1997, 65.

[6] F. Muthmann, Der Granatapfel (Bern 1982) 80 f. Abb. 69. 71; E. Pfuhl – H. Möbius, Die ostgriechischen Grabreliefs (Mainz 1977) 78 Nr. 103 Taf. 24.

[7] Baumann a. O. 32 f. 50 f.

[8] Wandgemälde im Haus der Julia Felix, Pompeji, mit Äpfeln, Trauben, einem aufgeplatzten Granatapfel und – möglicherweise – zwei Quitten, Muthmann a. O. 100, Abb. 85.

[9] G. Schneider-Herrmann, Der Ball bei den Westgriechen, BaBesch 46, 1971, 123-133.

[10] Frey-Asche a. O. 1997, 65.

[11] Olynth XIV, 259 Taf. 106, Haus B.

[12] Beispiel für sechs Sektoren: Hamburg, Inv.Nr. 1968.13, in Italien erworben, Ton rötlich-orange. Frey-Asche 1997, 64-66 Abb. 41; dies. (Frey) AA 1974, 75 f. Nr. 43 ; dies. 1988, 135-140 Abb. 1; fünf Sektoren: Hannover, Inv.Nr. 1937, 240, FO unbekannt, Ton hellrötlich-brau bis hellbraun, U. Liepmann, Griechische Terrakotten, Bronzen, Skulpturen (Hannover 1975) 58 T 40, 1. Hälfte 5. Jh. v. Chr. "attisch oder böotisch (?)"; vier Sektoren: Würzburg, Inv.Nr. H 4834,FO unbekannt, Ton hell graubraun (10 YR 6/2) bis hell rötlich (2,5 YR 6/8) 3.-2. Jh. v. Chr., E. Schmidt, Katalog der antiken Terrakotten. Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg Teil 1. Die figürlichen Terrakotten (Mainz 1994) 114 f. Nr. 169 Taf. 32 e; dies., Eros auf der Quitte, in: Alessandria e il mondo ellenistico-romano. Studi in onore di Achille Adriani (Rom 1984) 823-826 Taf. 130, 1.

[13] Higgins a. O. 80 f. Nr. 198-200 Taf. 34.

[14] Ure a. O. 72 Nr. 18.264 Taf. 17.

[15] E. de Juliis – D. Loiacono, Taranto. Il Museo Archeologico (Milano 1985) 389 Abb. 479.

[16] Chr. Reusser, Etruskische Kunst Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Basel 1988) 82 Nr. E 115; F. W. Hamdorf , Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlung München 2 (Lindenberg im Allgäu 2014) 617 f., Nr. E 915. E 917.

[17] Liepmann a. O. 58 Nr. T 40.

[18] M. Zammarelli, in: I Greci in Occidente. Poseidonia e i Lucani (Napoli 1996) 219 Abb. 145-155; T. C. Loprete, in: I Greci in Occidente. Greci, Enotri e Lucani nella Basilicata meridionale (Napoli 1996) 265 f. Abb. 3.40.35.

[19] U. Wintermeyer, Ein Grabfund aus Centuripe, in: P. Gercke (Hrsg.), Funde aus der Antike. Sammlung Paul Dierichs (Kassel 1981) 148 Abb. 72.

[20] Ure a. O. 68. 72 Nr. 112.82 und 18.264 Taf. 18; zur zeitlichen Einordnung Frey-Asche 1988, 135 f.