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Vermögende Körper: Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik

Promotionsprojekt von Stefan Hölscher.
Erstbetreuer: Prof. Dr. Gerald Siegmund (ATW Gießen).
Zweitbetreuerin: Prof. Dr. Bojana Kunst (ATW Gießen).

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Kurzdarstellung des Promotionsprojekts
Stefan Hölscher beendet gerade ein Dissertationsprojekt über den ambivalenten Wandel von Choreographiekonzepten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dessen Auswirkung auch auf zeitgenössische Tendenzen. Als primäre Referenzpunkte für dieses Unternehmen dienen ihm einerseits Jacques Rancières Überlegungen zum seinerzeit einsetzenden ästhetischen Regime und andererseits Michel Foucaults späte Vorlesungen zum simultan dazu verorteten Anfang einer Geschichte der Gouvernementalität: Zentral ist in beiden Fällen der Begriff des Lebens, das seitdem nicht mehr als feste Größe vorgestellt wird, sondern in seiner dynamis ins Zentrum unterschiedlicher Praktiken rückt. In Kapitel 1 wird zunächst skizziert, inwiefern das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowohl historisch als auch gegenwärtig immer wieder aufs Spiel gesetzt wurde und wird. Bezüglich dieser Problematik widmet sich Kapitel 2 zwei in mehrerlei Hinsicht entgegengesetzten Positionen innerhalb der Tanzwissenschaft, um von ihnen ausgehend einen dritten Weg zwischen André Lepeckis Ablehnung von Choreographie überhaupt und Gerald Siegmunds Identifizierung von Choreographie mit einer symbolischen Ordnung lacanianischer Provenienz zu entwickeln, der Aspekte der beiden anderen enthält und sich gleichzeitig auf Distanz zu ihnen begibt. Kapitel 3 unternimmt die kurze Genealogie eines normativ gefassten und in erster Linie auf téchne gegründeten Verständnisses von Choreographie im Sinne einer Poetik seit Thoinot Arbeau und Raoul-Auger Feuillet, das dann in Kapitel 4 anhand von Rancières Unterscheidung zwischen dem ethischen, dem poetischen/repräsentativen und letztlich dem ästhetischen Regime korrigiert wird.

Hierbei geht es darum zu zeigen, dass sich mit dem Entstehen der Ästhetik um 1800 als nicht länger besonderem Tätigkeitsbereich (Produktionsästhetik) wie gerade deshalb besonderem Sensorium (Rezeptionsästhetik) der Kunst im Singular eine Abwendung von den durch eine jeweils spezifische téchne konturierten Künsten und ihren Gattungen im Plural und deren wechselseitige Entgrenzung nach der Logik späterer ready-mades1[1] vollzieht. Kapitel 5 vertieft die paradoxe Situiertheit ästhetischer Praktiken, welche sich immer zugleich auf und jenseits der Grenze dessen befinden, was bereits zu ihnen gehört und die derart aktiv neue Formen generieren, indem es näher auf Schillers Überlegungen zum Spieltrieb und Kants Analytik des Schönen aus dessen Kritik der Urteilskraft eingeht. Das subjektiv allgemeine Vermögen der Körper, das hierbei zum Vorschein kommt und in ihnen eine unbestimmte Lebendigkeit provoziert, die in keiner bestimmten Lebensform aufgehen kann, wird anschließend mit Foucaults späten Vorlesungen über Die Geschichte der Gouvernementalität konfrontiert. Anhand Jean Georges Noverres Konzept des tableau vivants wird dann demonstriert, dass zwar sowohl Ästhetik als auch Biopolitik aus der um 1800 aufkommenden Vorstellung einer ständig neue Formen generierenden Natur resultieren, sich das Vermögen der Körper jedoch radikal von dem Kalkül unterscheidet, das sie und die Formen, die sie hervorbringen, anhand bestimmter Verfahren zu vereinnahmen versucht. Dieser Widerspruch zwischen Ästhetik und Biopolitik wird vertieft in Kapitel 6, das einer eingehenden Lektüre von Noverres Briefen über die Tanzkunst und die Ballette von 1760 gewidmet ist, ohne dabei seine eigene choreographische Praxis in Betracht zu ziehen. Hier soll gezeigt werden, dass Noverre, wenn er prophezeit, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde, in seinem berühmten Manifest einerseits poetisch geregelte Ideen von Choreographie aufkündigt, deren ästhetische Öffnung andererseits jedoch die Praktiken und Gegenstände des Tanzes auch in die Nähe ihrer biopolitischen Kontrolle rückt. Kapitel 7 fokussiert anhand der energetisch motivierten Theorien Rudolf von Labans und Doris Humpreys dementsprechende Produktionsweisen. In ihm wird untersucht, wie Körper dazu angeregt werden, ihre dynamis in stilistisch und technisch geregelte Akte (energeia) zu investieren und warum sie dann ihres Vermögens enteignet werden. Im Rahmen von Kapitel 8 wird schließlich der Begriff des Choreographischen als Alternative dazu vorgeschlagen. Anhand des Naturverständnisses von Benedictus de Spinoza2[2] und des von ihm postulierten generativen Verhältnisses von Substanz und Modi werden Formen und Tätigkeiten dort nicht mehr als bereits bestimmte und klar voneinander unterschiedene Pole gedacht, sondern als Tätigkeitsformen auf einer ihnen gemeinsamen Ebene und in gegenseitiger Immanenz angesiedelt. – Das Choreographische wird konstituiert von plebejischen Fehlschritten, welche sich am Ende der vorliegenden Arbeit, in Kapitel 9, als diejenigen Momente herausstellen, die auf dem Spiel stehen, wenn es darum geht, eine offene Praxis vermögender Körper zu formulieren entgegen ihrer Vereinnahmung durch biopolitische Kalküle.

Eingeschoben in den argumentativen Fortgang der einzelnen Kapitel sind Parabeln, in denen Werke zeitgenössischer Choreographinnen und Choreographen besprochen werden. Sie dienen einer Konkretisierung der aufgeworfenen Fragestellungen und Probleme, sollen jedoch nicht für diesen Zweck instrumentalisiert werden, sondern weitestgehend in ihrer Singularität für sich selbst sprechen.3[3] Weder wird die Thematik dieser Dissertation deduktiv aus ihnen heraus entwickelt noch induktiv in sie hineingelegt. Die Stücke von Saša Asentić, Jérôme Bel, Mette Ingvartsen/Jefta van Dinther, Ivana Müller und Yvonne Rainer werden zwar im Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Biopolitik respektive hinsichtlich vermögender Körper besprochen, aber derart, dass die mit ihnen gemachten Erfahrungen einfließen in die anderen Teile des Textes und sie modifizieren, ohne dass eine einzelne Komponente auf eine andere reduzierbar oder aus ihr ableitbar wäre.