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Bericht

Das Projekt „(Un)Diszipliniert: Ukrainistik pluralisieren – Den Krieg in der Ukraine verstehen“ (kurz UNDIPUS) ist ein Verbundprojekt, in dem sechs Teilprojekte, vier Disziplinen und drei Standorte vereint sind, nämlich die Universitäten Greifswald, Regensburg und Gießen. Inhaltlich strebt das Projekt UNDIPUS eine institutionelle Stärkung und methodologische Pluralisierung der Ukrainistik an, die gleichermaßen die Vernetzung der Ukraine-Studien in Deutschland und anderen Ländern umfasst. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist eine multilaterale Perspektive auf die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine von außerordentlicher Bedeutung. Im Mittelpunkt steht der Einfluss des Krieges nicht nur auf die Prozesse der Identitätsbildung, sondern auch der Instrumentalisierung der Ukrainistik durch autoritäre und essentialistische gesellschaftliche Diskurse. Methodologisch ist das Projekt an kulturwissenschaftlichen Modellierungen orientiert, die sich etwa auf die Bereiche der postkolonialen Forschung, der Traumatheorie oder der Psychoanalyse stützen, aber auch sprach- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen nachgehen. Ein konstruktiver Dialog zu sämtlichen Versuchen einer „Disziplinierung“ und Mobilisierung des Forschungsgebietes soll durch einen interdisziplinären Austausch ermöglicht werden, der nicht nur die Slawistik, sondern auch andere Fachgebiete einbezieht.

Ein erster Schritt in diese Richtung ist in der Durchführung eines Workshops an der Universität Greifswald im Mai 2022 zu sehen, welcher zugleich als Auftaktveranstaltung des Projekts UNDIPUS konzipiert wurde. Sowohl die Expertise internationaler Gäste als auch die Vorhaben der unmittelbar am Projekt beteiligten Personen erwiesen sich als wertvolle Diskussionsbasis. Die Inhalte der Vorträge, die an dieser Veranstaltung gehalten wurden, sollen kurz vorgestellt werden.

Der erste thematische Block war auf geopolitische, historische und linguistische Fragestellungen der Ukrainistik fokussiert. Zunächst modellierte Sergiy Kudelia (Baylor University, Waco/USA) die Bedeutung von Territorium im Krieg zwischen Russland und der Ukraine, bevor Roman Dubasevych (Universität Greifswald) der Problematik Trauma, Heroism, and War – Never Ending sprach. Den Übergang zu linguistischen Fragestellungen markierte Alla Nedashkivska von der University of Alberta (Edmonton/Kanada), die zum Thema The Main Players in the Landscape of Languages in Ukraine: Ukrainian and Russian in Practices, Beliefs, Challenges, and New Realities referierte. Im Beitrag Scaling the Linguistic Map of Bessarabia beleuchtete Martin Henzelmann (Universität Greifswald) die Problematik der Minderheitensprachen im Budžak in der Ukraine und im Süden der Republik Moldau.

Im zweiten thematischen Block standen Regionalstudien im Vordergrund, die die Relevanz bestimmter historischer Gebiete würdigten, aber auch ihre punktuelle geopolitische Sprengkraft aufschlüsselten. Kai Struve von der Martin-Luther-Universität Halle skizzierte einleitend die Problematik Upper Silesia between Germany and Poland: Politics, Society, and Competing Historical Narratives in 19th and 20th c. Der nachfolgende Vortrag mit dem Titel Re-Awakened Separatist Sentiment in the Donbas: From Potential Threat to ‘People’s Republics’ von Marta Studenna-Skrukwa (Adam-Mickiewicz-Universität Poznań) vertiefte komplexe inhaltliche Aspekte separatistischer Tendenzen im Donbas. Die Ausführungen zu A Region in Literary Studies: Possible Perspectives on a Research Object von Oleksandr Zabirko und Alina Strzempa (beide Universität Regensburg) zielten darauf ab, die Ansichten über Region und Regionalismus in der Geschichtswissenschaft sowie in den Kultur- und Literaturwissenschaften kontrastiv gegenüberzustellen.

Tarik Cyril Amar von der Koç Universität in Istanbul wurde anschließend als Keynote-Speaker zugeschaltet. Sein gedanklicher Ansatz bestand darin, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine aus der Perspektive einer „Nähe“ bzw.  „Distanz“ zueinander neu zu diskutieren.

Der dritte Themenblock beleuchtete politische, kulturelle und literarische Tendenzen. Zunächst sprach Valeriya Korablyova von der Karls-Universität Prag zur Problematik Getting ‘Away from Moscow’: Ukraine’s Performative Decolonization and its Phronetic Citizenry und beschrieb Muster des Widerstands an der Basis gegen die russische Aggression in der Ukraine. Maria Sonevytsky (Bard College, New York) stellte anschließend das dritte Kapitel ihrer sich im Entstehungsprozess befindlichen Monographie über das Musikalbum „Tanci“ der bekannten ukrainischen Ethnopunkrock-Band „Vopli Vidopljasova“ (1989) im Redebeitrag Unlearning the ‘Russkiy Mir’: Punk Rock, Politics of Language, and Colonial Consciousness in Late Soviet Kyiv vor. Alexander Chertenko von der Justus-Liebig-Universität Gießen konzentrierte sich auf die schwierige Beziehung zwischen dem Weiblichen und dem Militärischen in der ukrainischen Literatur bei Autorinnen, die ihre Werke nach 2014 auf den Markt brachten (“Oh God [...] tame the berserk in us“: On Difficulties of Writing "Nationally Minded" Herstories of War). Abschließend theorisierte Olga Plakhotnik von der Universität Greifswald die Thematik Sexual Citizenship in Ukraine: Borderland, Border-Thinking and War und griff die multiplen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Identität auf, die in LGBT+-Gemeinschaften in Charkiv angefochten und verhandelt werden.

Es bleibt festzuhalten, dass der Workshop dazu beitragen konnte, die Begleitumstände der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen auf ukrainischem Boden aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aktuell zu beleuchten und gemeinsame theoretische Rahmenbedingungen für das Projekt UNDIPUS auszuloten. Die einzelnen Forschungsvorhaben verstehen sich daher auch als Plattform für einen entsprechenden Austausch und möchten auch künftig zu einem kritischen Monitoring der Ereignisse sowie zur reflektierten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse beitragen.

 

Martin Henzelmann