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Fleisch als Kontroverse der Moderne: Konstruktionen von Gesundheitsrisiken im Spiegel der Öffentlichkeit

19.02.2021: Unsere Doktorandin Verena Fingerling war mit einem Vortrag auf dem digitalen DGE-Kongress (17. - 19. Februar 2021) vertreten. In ihrer Präsentation zeigte die Ernährungswissenschaftlerin, wie das Fleischessen sich in der öffentlichen Kommunikation im Verlauf von 70 Jahren SPIEGEL-Berichterstattung sich von einem geschätzten Kraftspender zu einem modernen Gesundheitsrisiko gewandelt hat.

                                                                                                                                                      Darstellung: Verena Fingerling



Ich war auf dem digitalen DGE-Kongress und habe dort aus meiner Doktorarbeit berichtet. Im Hinblick auf die Ernährungsbildung, welche durch mediale Kommunikation stattfindet, habe ich darüber referiert, wie sich das Fleischessen in der öffentlichen Kommunikation von einem geschätzten Kraftspender zu einem modernen Gesundheitsrisiko gewandelt hat. Dazu habe ich eine Zeitreise durch 70 Jahre Spiegel-Berichterstattung unternommen und divergierende Positionen zur Verknüpfung von Fleisch und Gesundheitsrisiken gegenübergestellt. Basis der Untersuchungen ist eine Analyse des Magazins „Der Spiegel“ in den Jahren von 1947 bis 2019. Diese werden mit einem diskursanalytischen Theorierahmen in den Blick genommen.

In den Nachkriegsjahren rahmen Spiegel-Artikel das Fleisch vor allem als Kraft und Fettquelle (nicht Protein!). Als wichtige Aufgabe in der Ernährungsversorgung wurde es angesehen, die Menschen mit ausreichend Fleisch zu versorgen. Jedoch stiegen bereits im Verlauf der 1950er Jahre die Ansprüche daran, welches Fleisch man denn am liebsten haben wolle. Im Streben nach Wohlstand sowie einem schlanken, gesunden Körper wandelte sich das Bild vom fetten „Idealschwein“ schnell zu einem, das doch bitte möglichst mageres Fleisch liefern solle. Fleisch wird jetzt außerdem als eine Quelle von Vitaminen und Proteinen eingeordnet. Es stehe außer Frage, so die herrschende Meinung, dass Fleisch für die menschliche Ernährung ein notwendiges Lebensmittel sei.

Als Folge der Entwicklung hin zur industriellen Tiermast werden die Zustände bereits in den 1960er Jahren als skandalös bezeichnet und mit mafiösen Strukturen verglichen. Im Rahmen von Rundumschlägen bezüglich sozialer, ökologischer und Schäden für das Tierwohl werden umfangreich Mutmaßungen darüber angestellt, dass Keime, Medikamentenrückstände und im Fleisch verbleibende Umweltchemikalien bestimmt nicht gesund für VerbraucherInnen sein könnten. Dem entgegengesetzt werden jedoch auch Vorwürfe an „hysterische“ Hausfrauen, doch bitte nicht zu sehr in Panik zu verfallen.

Ab den 1970er Jahren prangern Artikel die sogenannte „Verfettung Europas“ an, an der fettreiche und verarbeitete Fleischwaren einen wichtigen Anteil hätten. Auch geraten in den 1990er und 2000er Jahren rotes Fleisch sowie tierische Fette vermehrt ins Kreuzfeuer. Das Fleischessen generell wird häufig als ein Laster beschrieben, das vor allem für den Genuss verzehrt werde und der Gesundheit, wenn überhaupt, nur in moderaten Mengen zuträglich sei. Auch von FleischliebhaberInnen wird es nur noch selten als ein notwendiges Lebensmittel eingeordnet, sondern als ein hochwertiges, das wertvolle Nährstoffe liefern könne.

Im Verlauf der vergangenen 70 Jahre haben diese Debatten an Umfang und Komplexität gewonnen. Neue Gesundheitsrisiken kommen und werden in übergreifende Risikodiskurse zu Mangel- und Überernährung, Klimawandel, Tierwohl und oder den vermeintlichen Verlust kollektiver Werte verwoben.

Insgesamt gewinnen Diskurse über Fleisch kontinuierlich an öffentlicher Aufmerksamkeit und werden im Spiegel seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Sie speisen sich aus Wissensbeständen unterschiedlicher Bereiche wie Ernährungswissenschaften, Politik, Ratgeberformaten oder Allgemeinbevölkerung. Leitmedien als Formate mit hoher Reichweite prägen gesellschaftliche Wissens- und Handlungsmuster, sowohl indem sie direkt rezipiert werden als auch indem sich andere Medien und Entscheidungsträgerschaften auf sie beziehen, und gestalten so die Gegenwart und Zukunft der Ernährung mit.