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"Geschichte der medizinischen Fakultäten" zur Vorbereitung von Jubiläen


Workshop im Institut für Geschichte der Medizin Gießen vom 4. - 5. 9. 2003.

Bericht von Dr. Sigrid Oehler-Klein, Gießen


In den nächsten Jahren wollen einige Universitäten ihrer Entstehung und Entwicklung gedenken. Die Universität Greifswald möchte im Jahr 2006 auf ihre 550jährige Vergangenheit zurückblicken; die Universitäten Gießen und Freiburg feiern im Jahr 2007 ihr 400jähriges bzw. 550jähriges Bestehen, die Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert soll 2008 vorliegen und die Universität bzw. Medizinische Fakultät Leipzig will sich 2009 bzw. 2015 an 600 Jahre Geschichte erinnern.

Auf einer als Erfahrungs- und Meinungsaustausch konzipierten Tagung in Gießen zur Geschichte der medizinischen Fakultäten diskutierten am 4./5. September Fachvertreter und -vertreterinnen aus ganz Deutschland über Aufgaben und Möglichkeiten der Umsetzung offizieller Aufträge zur Gestaltung von Ausstellungen, wissenschaftlichen Begleitbänden und Festschriften aus Anlass dieser Jubiläen.

Möglich wurde diese bislang wohl einmalige Zusammenkunft durch einen Wechsel in der Leitung des Instituts für Geschichte der Medizin in Gießen (Professor Dr. Volker Roelcke als Nachfolger von Professor Dr. Jost Benedum). Mit dem Wechsel erfolgte auch die Übernahme der Federführung für einen bereits 1999 von der medizinischen Fakultät Gießen dem Institut erteilten Auftrag zur Erforschung der eigenen Vergangenheit.

Diese steht - wie die Tagung deutlich machte - an den jeweiligen Erinnerungsorten in unterschiedlichen Kontexten: Teilweise erfolgt sie im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der Gesamtuniversität und wird von zentral eingerichteten Arbeitskreisen oder Kommissionen begleitet und beaufsichtigt, teilweise wird sie - wie in Gießen - von den medizinischen Fakultäten selbst eingefordert.

Alle geplanten Fakultätsgeschichten unterliegen jedoch aufgrund des Kontexts ihrer Entstehung stets mehrfachen Ansprüchen, die es in ihren Auswirkungen auf die Forschung zu reflektieren gilt: der Publikums- bzw. Leserorientierung, dem Bedürfnis nach Repräsentation einzelner Institute und Kliniken sowie der fachwissenschaftlichen Anforderungen seitens der Medizin- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung.
Dementsprechend vielgestaltig wurde in der Diskussion über die anvisierten Endprodukte debattiert: Es wurde sowohl die Form einer Ausstellung (auch im Internet) mit Schwerpunkt auf narrative individualisierende Elemente erörtert als auch die Möglichkeit reich bebilderter mehrbändiger Festschriften inklusive der Darstellung von Persönlichkeiten und Forschungshöhepunkten erwogen. Aber auch die wissenschaftshistorische Aufarbeitung, welche die Fakultätsgeschichte in den Zusammenhang räumlicher, sozial- und kulturhistorischer Gegebenheiten sowie struktureller und geistesgeschichtlicher Umbrüche stellt, wurde diskutiert.

Der Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer garantierte an diesem Ort das Verständnis für die Sachzwänge und erzielte Einvernehmen in dem Beharren auf eine den historischen Standards entsprechende Unabhängigkeit der Forschung. Wie diese sich allerdings im Konkreten, d.h. in der Einbindung in bereits existierende Modelle von aufwendig ausgestatteten, öffentlichkeitswirksamen Festschriften oder Schriftenreihen durchsetzen wird oder kann, scheint noch auf dem Prüfstein zu stehen.

Allerdings müssen sich die Medizinischen Fakultäten, die sich selbst als gewichtigen Teil der Universitäten empfinden, als ehemals bedeutende gesundheitspolitische Instrumente des nationalsozialistischen Deutschlands eines besonderen Kapitels ihrer Existenz erinnern. Von vornherein sind es also nicht nur Jubelschriften und Auflistungen des linearen Fortschritts im Dienste der Menschheit, die hier offiziell gefordert werden, sondern auch ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem ineinandergreifenden historischen Kontext von außer- und inneruniversitärer Wissenschaftspolitik, den gesamtgesellschaftlichen Paradigmen und den verschiedenen kulturgeschichtlich geprägten Mentalitäten der Lehrenden und Studierenden.

Dass sich eine Reihe von medizinischen Fakultäten Deutschlands grundsätzlich diesem speziellen Erbe stellen, und ihre ehemalige institutionelle wie auch personelle Einbindung vor allem in die Rassen- und Kriegspolitik des NS-Staates aufdecken will, zeigt die Einrichtung von Forschungsstellen zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit auch jenseits der erwähnten Jubiläen. Das seit etwa Mitte der 90er Jahre bestehende grundlegende Forschungsinteresse an diesem Kapitel der Fakultätsgeschichte wird zudem durch die Finanzierung entsprechender Projekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstrichen. So konnten die Erfahrungen bereits abgeschlossener Projekte [1] in die Diskussion um die Konzeptionen und Präsentationen der fakultätsgeschichtlichen Untersuchung einfließen.

Das Tagungsprogramm in Gießen bestand somit eigentlich aus zwei Teilen. Im ersten Teil befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Hinblick auf die konkrete Vorbereitung der Jubiläen mit der Methode der Aufarbeitung großer Zeiträume, die nach verschiedenen Gesichtspunkten gegliedert werden können. Im zweiten Teil konnten anhand der inzwischen weitgehend standardisierten Form der Erschließung der Zeit zwischen 1933 und 1945, unter Einbeziehung der vorbereitenden Phasen und der Nachkriegszeit, bereits verschiedene vertiefende Arbeitsschwerpunkte diskutiert werden: Hier wurde die Fokussierung auf den medizinischen Alltag, z.B. der Patienten oder des Pflege- und Schulungspersonals, hervorgehoben (Freiburg und Düsseldorf) oder mögliche Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Dozenten, z.B. im Hinblick auf eugenische Gutachten und auf die Wahl der Forschungsrichtung, in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses gestellt (Gießen). Vor dem Hintergrund einer etwas unterschiedlichen Gewichtung von biographischem (Bonn) [2], sozialhistorischem (Düsseldorf), mentalitäts- bzw. kulturgeschichtlichem (Freiburg), wissenschaftshistorischem oder strukturellem Forschungsansatz (Marburg) wurde deutlich, dass alle Arbeitsgruppen sich durchweg mit dem an den Fakultäten herrschenden Geist vor der so genannten Machtergreifung auseinandersetzten. Ferner spielte in allen Gruppen die Berufungspolitik und das Selbstverständnis von Medizinern nach 1933, das Schicksal der Verfolgten, die Parteimitgliedschaften von Dozenten und Studenten, die Karrieren und die Forschung im NS-Staat, die Veränderungen der Lehrpläne und die rassenhygienischen Aktivitäten an den medizinischen Fakultäten eine Rolle.

Zwar schien diese Gemeinsamkeit die Forderung nach einer detaillierten Vergleichsstudie zwischen den Universitäten zu prädestinieren, doch bereits anhand der Diskussion über den Aussagewert der erstellten Statistiken wurden grundlegende Schwierigkeiten deutlich. Für eine übergreifende bundesweite Studie zur Situation an den medizinischen Fakultäten des "Dritten Reiches", durch welche die teils nur auf einzelne Bereiche bezogenen Überblickswerke [3] quantitativ und auch qualitativ ergänzt werden könnten, müssten die Arbeitsgruppen von vornherein eine abgestimmte Vorgehensweise bezüglich der Fragestellung und Methodik entwickeln.

Während die nationalsozialistischen Versuche zur Zentralisierung und Vereinheitlichung der medizinischen Lehre, Forschung und Praxis die Vergleichbarkeit zumindest in Aussicht stellen, verdeutlichte der erste Teil der Tagung eindrücklich die Disparität in den Untersuchungen einer Gesamtgeschichte der jeweiligen Fakultäten.

Deutlich wurde in den vorgetragenen Konzeptionen die Bedeutung regionaler Unterschiede, bezogen auf, erstens, das verfügbare Archivmaterial und bereits vorhandene historische Aufarbeitungen, zweitens, die jeweils verschiedenen Rahmenbedingungen sowie, drittens, Auftragsvorgaben, Sach- und Personalmittel sowie
Kooperationsmöglichkeiten innerhalb der Gesamtuniversität.

Die Notwendigkeit, exemplarische wie auch repräsentative Inhalte für die Bearbeitung auszuwählen, verschärfte zusätzlich, in den Augen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Verschiedenartigkeit der Ansätze. Für die Universität Greifswald werden beispielsweise vor allem politische Umbruchszeiten zu Ansatzpunkten für eine "längsschnittartige Darstellung der Einwirkung der Universität auf die Gesellschaft und umgekehrt". Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten verschiedener medizinischer Konzepte (u.a. Diabetes in Forschung und Versorgung) sowie die Funktion der medizinischen Fakultät für Staat und Stadt am Beispiel der Gründung einer militärmedizinischen Sektion und des Gutachterwesens in der kommunalen Hygiene sollen untersucht werden. In Jena hingegen wird der für das 20. Jahrhundert diagnostizierte Paradigmenwechsel eines Absinkens der Bedeutung der Geisteswissenschaften und eines Aufschwungs der Naturwissenschaften im Mittelpunkt stehen. Gelungenerweise bindet sich in dieses Konzept die Erforschung der für Jena wichtigen Profilierung der Rassenkunde in der NS-Zeit ein. [4] Mit der Frage nach der Bedeutung der in Jena angesiedelten Großindustrie für die Universität werden auch hier Einflüsse lokalspezifischer Gegebenheiten einbezogen. Die mögliche Einbindung der Fakultätsgeschichte in die allgemeinen Vorbereitungen zum Universitätsjubiläum wird in Leipzig bislang aus forschungshistorischer Perspektive diskutiert; die Leitgedanken der geplanten Schriftenreihe (Beziehung der Universität zu Leipzig und Sachsen; "universitas" als Rechts- und Personenverband, Forschungen an der Universität Leipzig) sollen hier chronologisch geordnet werden. Anhand der Gießener Projektdarstellung wurden andere mögliche, auch übergreifende, Schwerpunktsetzungen erörtert: am Beispiel der Gründungs- und Entwicklungsgeschichte einzelner Kliniken (u.a. Frauenheilkunde und Psychiatrie) könnten überregionale universitätspolitische und fachinterne Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Mit den Schlagworten "Institutionalisierung" und "Professionalisierung" in der Medizingeschichte wurden weitere, die Lokalgeschichte überschreitende und mancherorts bereits ausgelotete Untersuchungskomplexe genannt.

Aus der Tatsache, dass es zur originären Aufgabe von Universitätsdozenten gehört und gehörte, innerhalb einer überregionalen Forschungslandschaft zu agieren, und dass gerade der angestrebte oder vollzogene Wechsel an andere Universitäten dieses sinnfällig macht, folgt notwendig die Forderung an eine adäquate Fakultätsgeschichtsschreibung, auch die Bedingungen und Konsequenzen dieses Wissenstransfers innerhalb des gesamten Universitätsverbundes zu untersuchen. Insgesamt bleibt der Eindruck eines zwar möglichen, aber noch nicht genügend miteinander verbundenen Netzwerkes fakultätsgeschichtlicher Forschung. Doch die Gießener Tagung wollte hierfür nur den Impuls setzen; deswegen und aufgrund des eher informellen Charakters dieses Meinungsaustausches wurde sie von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als fruchtbar empfunden.

[1] Grün, Bernd; Hofer, Hans-Georg; Leven, Karl-Heinz: Medizin und Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich". Frankfurt a. M. et al. 2002 (= Medizingeschichte im Kontext, hrsg. von Ulrich Tröhler und Karl-Heinz Leven, Bd. 10); Die Marburger Medizinische Fakultät im 'Dritten Reich'. Hrsg. von Gerhard Aumüller, Kornelia Grundmann, Esther Krähwinkel, Hans H. Lauer, Helmut Remschmidt. München 2001 (= Academia Marburgensis, Bd. 8); Die Medizinische Akademie Düsseldorf im Nationalsozialismus. Hrsg. von Michael G. Esch, Kerstin Griese, Frank Sparing und Wolfgang Woelk. Düsseldorf 1997 (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 47).

[2] Ralf Forsbach: Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im 'Dritten Reich'". Voraussichtliches Erscheinungs-datum 2004.

[3] Grüttner, Michael: Studenten im Dritten Reich. Paderborn et al. 1995; Heiber, Helmut: Universität unterm Hakenkreuz. Teil I: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz. Teil II: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen. München 1991; Bussche, Hendrik van den: Im Dienste der 'Volksgemeinschaft'. Studienreform im Nationalsozialismus am Beispiel der ärztlichen Ausbildung. Berlin, Hamburg 1989 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd.4); Kater, Michael: Doctors under Hitler. London 1989.

[4] "Kaempferische Wissenschaft" - Studien zur Universitaet Jena im Nationalsozialismus. Hrsg. von Uwe Hossfeld, Juergen John, Oliver Lemuth und Ruediger Stutz. Voraussichtliches Erscheinungsdatum 2004 bei Boehlau, Koeln-Weimar.

© für diesen Text: 2003 by H-Soz-u-Kult (H-Net), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de