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Semesterprogramm

Doktorand_innen-Ringvorlesung des GCSC am Historischen Institut

"Weg von der Meistererzählung: Neue Perspektiven der Kulturgeschichte"

WiSe 2015/2016
Leitung: Prof. Dr. Stefan Rohdewald und Doktorand_Innen des GCSC

Di 10-12 Uhr, A3

 
Kultur scheint in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft überall zu sein. Nicht mehr die Geschichte großer Männer und ihrer Tätigkeiten, nicht mehr die Geschichte von Staaten und ihren Prozessen soll geschrieben werden. Vielmehr orientiert sich die Kulturgeschichte an Erzählungen „von unten“ nahe an der historischen Lebenswelt der Akteure und ihren Bedeutungszuschreibungen. Eine solche Geschichte weg von einer Meistererzählung zu schreiben bedeutet aber auch, die ihr zugrundeliegenden Machtstrukturen, Konflikte und Missverständnisse miteinzubeziehen und Kultur in einem komplexen System zu beschreiben. Die Kulturgeschichte bedingt dabei eine Ausweitung des Gegenstandbereichs und die Reflexion der Anwendbarkeit kulturwissenschaftlicher Theorien für die Geschichtswissenschaft. In dieser Ringvorlesung werden Doktorand_innen des GCSC grundlegende Zugänge zur Kulturgeschichte vorstellen und anhand von Beispielen aus ihrer eigenen Forschung in dieses sehr diverse Feld einführen. Das Themenspektrum reicht von der Vorstellung methodischer Grundlagen wie Diskursanalyse und Oral History, über die Anwendung kulturwissenschaftlicher Konzepte aus der Raum-, Geschlechter und Transkulturalitätsforschung, bis hin zu Analysen von Kultur als Macht in der Politik und der Wissensproduktion.

Die Doktorand_innenringvorlesung wird organisiert von der Sektion „Geschichtstheorie und Methoden der Quellenanalyse“ des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) und dem GCSC Teaching Centre. Sie wird unter der Leitung von Prof. Dr. Stefan Rohdewald durchgeführt.

 

20.10. Einführung (Prof. Dr. Stefan Rohdewald)

 

Historiographische Zugänge I: Problemfelder und Akteure

 

27.10. Das Leben der kleinen Leute: Ansätze der Alltagsgeschichte

Karl V., Martin Luther oder Otto von Bismarck sind als ‚große Männer der Geschichte‘ fast überall bekannt. Was aber ist mit allen anderen? Was kann beispielsweise interessant sein am Leben eines Söldners im Dreißigjährigen Krieg oder dem Inquisitionsprozess gegen einen Müller im Italien des 16. Jahrhunderts? Was können wir lernen, wenn wir das Leben scheinbar unbedeutender Menschen betrachten?

Die Alltagsgeschichte fragt nach dem Leben der kleinen Leute, ihren Lebenserfahrungen und Wahrnehmungen. Diese historische Denkrichtung wollte in ihren Ursprüngen eine Geschichte ‚von unten‘ schreiben. Sie wandte sich damit gegen die Diskriminierung von sozialen Gruppen. Dabei ging es auch um politisch bedeutsame Fragen – denn die Alltagsgeschichte diskutierte die Art, wie Geschichte zu deuten sei. Eng damit verknüpft sind Fragen der Macht, denn wem gehört eigentlich die Geschichte?

Zentral für die Alltagsgeschichte ist, dass sie keinen festgelegten Gegenstand untersucht, sondern eine eigenständige Perspektive einnimmt. Die Vorlesung soll diese Herangehensweise der Alltagsgeschichte als Forschungsrichtung vorstellen. Hauptziel ist es, die Alltagsgeschichte danach als eigenständigen Zugang in den Geschichtswissenschaften einordnen zu können. Die Studierenden erhalten dadurch für eigene Arbeiten Anreize für Fragestellungen innerhalb einer Geschichtsforschung, die sich von der Meistererzählung großer Männer zunehmend abwendet.

Malte Thodam studierte Geschichte, Antike Kulturen (Alte Geschichte, antike Philologie/Philosophie) sowie Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit in Düsseldorf. Aktuell promoviert er als Doktorand am GCSC zur "Wissens- und Alltagskultur der Frühen Neuzeit in Kalendern", zudem unterstützt er das GCSC in den Bereichen Postdoc-Research und Event-Management.

 

3.11. Rekonstruktion neuerer Geschichte: Oral History Interviews und Zeitzeugengespräche

Oral History Interviews und Zeitzeugengespräche sammeln Informationen über die Vergangenheit durch die Linse der Gegenwart. Sie bieten einen Einblick in den individuellen Speicher eines Menschen und sind daher subjektiv. Außerdem verstehen sie sich als herausragende Informationsquelle für die Gegenwart. Dabei ist es aber wichtig, die durch das Interview gewonnenen Kenntnisse mit Informationen aus anderen Quellen abzugleichen und zu reflektieren.

Zeitzeugengespräche ermöglichen den Zugriff auf Quellen, die nicht unbedingt archiviert sind. Sie dienen als Primärdokumente und das gewonnene Wissen kann bestehende Überzeugungen und Frameworks testen. Außerdem ermöglichen sie eine vergleichende Analyse über Standorte oder Zeiträume oder bieten sehr spezifische Informationen über ein bestimmtes Ereignis oder ein_e Akteur_in.

Die Vorlesung gliedert sich in drei Teile: Best Practices, kritische Arbeit mit den Quellen und das Beispiel des „Visual History Archive“ an der Freien Universität Berlin. Best Practices für die Gesprächsführung werden erläutert, und wir werden uns mit der Qualität und Beschaffenheit solcher Feldarbeit auseinandersetzen. In dieser Sitzung werden die Verfügbarkeit sowie die Notwendigkeit einer kritischen Bewertung der Interviewquellen diskutiert. Mündliche Befragungen können dazu dienen, die Lücken durch Archiv- oder Bibliotheksforschung allein zu füllen und Hilfe bei der kritischen Prüfung der primären Dokumente anzubieten.

Jill Grinager ist Doktorandin am Historischen Institut der JLU Gießen und wissenschaftliche Mitarbeiterin für Curriculum und Evaluation am GCSC. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Politik und Praxis von Heimerziehung und jugendlichem Strafvollzug im DDR-Mittelelberaum. Jill Grinager ist ehemalige Fulbright Stipendiatin und hat ihren Bachelor-Abschluss an der American University und ihren Master-Abschluss an der Georgetown-Universität erlangt. Neben und nach ihrem Studium hat Jill Grinager auch in der akademischen Verwaltung und beim Wissenschaftsmanagement an der American University gearbeitet.

 

10.11. Ist die Moderne Geschichte? ‚Fortschritt‘ und ‚Moderne‘ als Gegenstände der Kulturgeschichte

Was war und was ist ‚Moderne‘, welchen Zeitraum beschreibt sie und in welchem Zusammenhang steht ‚Fortschritt‘ zu ihr? Die Begriffe ‚Moderne‘ und ‚Fortschritt‘ lassen sich als Meistererzählungen bezeichnen. Ausgehend von ihnen wurden Leitkategorien entwickelt, die für die Geschichteschreibung über die Zeit seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich waren und sogar zum Teil noch sind. Kulturgeschichtliche Forschung versuchte jedoch, gegen das Modernisierungsparadigma anzuschreiben, da nicht der Weg hin zu einer ‚modernen‘ Gesellschaft im Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses stand, sondern die Macht, die von und auf Akteure ausgeübt wurde.

Diese Vorlesung verfolgt das Ziel, zum einen eine Vorstellung der ‚klassischen‘ Geschichtsschreibung von ‚Moderne‘ und ‚Fortschritt‘ zu leisten. Zum anderen sollen vor allem Ansätze der Kulturgeschichte thematisieren werden, die beide Begriffe zu ihrem Gegenstand gemacht haben, da sie zeitgenössisch gebraucht wurden und somit nicht ignoriert werden sollten. So werden beispielsweise die aus der Soziologie stammende Theorie der ‚Multiplen Modernen‘ des Soziologen Shmuel Eisenstadt und der akteurszentrierte Ansatz des Historikers Frederik Cooper erläutert werden.

Die Vorstellung der Meistererzählungen von ‚Modernisierung‘ und ‚Fortschritt‘ sowie die dagegen vorgebrachte Kritik, als auch Theorien zum gewinnbringenden Umgang mit den Konzepten sollen dabei an verschiedenen Beispielen exemplarisch erklärt werden. Damit wird die kritische Arbeit mit Begriffen und Modellen geübt. Dies soll darüber hinaus zum Nachdenken über und zur Arbeit mit diesem kulturgeschichtlichen Gegenstand anregen und einladen.

Benjamin Brendel ist ausgebildeter Energieelektroniker und machte das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der University College Cork/Irland. An seinen Bachelor-Abschluss schloss sich ein Masterstudium der Vergleichenden Geschichte der Neuzeit an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg an. Es folgte eine einjährige Weltreise. Benjamin Brendel ist nun als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GCSC tätig und wird bei Dirk van Laak und Hubertus Büschel zum Thema: „Gebannte Flüsse – fluide Gesellschaften. Planung, Inszenierung und Auswirkung des Dammbaus in New Deal, franquistischen Spanien und im postkolonialen Ägypten“ promoviert.

 

Historiographische Zugänge II: Macht und Diskurs in der Kulturgeschichte

 

17.11. Foucault & Co: Einführung in die historische Diskursanalyse

Was können wir eigentlich wissen? Was nehmen wir als „Wirklichkeit“ wahr? Warum werden bestimmte Aussagen zu einem bestimmten Zeitpunkt getätigt? Dies sind Fragen, mit denen die historische Diskursanalyse arbeitet. Kulturgeschichte befasst sich nicht mit reiner Ereignisgeschichte und Meistererzählungen rund um einzelne herausgehobene Persönlichkeiten, sondern fragt nach tieferliegenden (Kommunikations-)Strukturen und Bezügen. Genau das tut ein diskursanalytischer Ansatz, mit dem Entstehungsprozesse und Kontexte von Aussagen und Handlungen herausgearbeitet werden. So können Beziehungen, Machtverhältnisse und Identitäten näher erforscht werden.

Untrennbar ist der Begriff der Diskursanalyse mit dem französischen Philosophen Michel Foucault verbunden. Grundlegende Ansätze zur Diskurstheorie gingen ihm jedoch voraus und zahlreiche Modifikationen folgten ihm nach. Während die Frage nach Diskursen zunächst in den Sprachwissenschaften und der Soziologie beheimatet war, haben sich Begriffe wie Diskurs und Diskursanalyse gerade in den letzten zwanzig Jahren auch in den Geschichtswissenschaften etabliert.

In der Vorlesungssitzung soll ein Überblick über verschiedene diskurstheoretische Ansätze (z. B. Foucault, Laclau) und die Entwicklung der historischen Diskursanalyse gegeben werden. Darauf aufbauend werden Möglichkeiten der Anwendung der Diskursanalyse in den Geschichtswissenschaften erörtert. Ziel ist es, Studierenden Möglichkeiten der Diskursanalyse für ihr eigenes Arbeiten aufzuzeigen und ihnen dafür das nötige „Handwerkszeug“ zu präsentieren.

Elisabeth Engler-Starck studierte evangelische Theologie in Leipzig und Mainz und verbrachte zwei Auslandssemester mit einem religionswissenschaftlich-historischen Schwerpunkt in Jerusalem. Sie schloss dieses Studium als Diplom-Theologin ab. Nach einer bereits im Studium beginnenden Fokussierung auf (kirchen-)historische Themen erforscht sie in ihrem Promotionsprojekt im Fach Alte Geschichte nun die Konstruktion von Autorität im spätantiken Mönchtum, wobei auch eine diskursanalytische Arbeitsweise zum Tragen kommt.

 

24.11. Von der Nation über die Gesellschaft zum Wissen? Potenziale der Wissensgeschichte für die Kulurgeschichte

Wissen ist Macht! Wer mehr weiß, hat einen Vorteil gegenüber Konkurrent_innen, und somit mehr Macht. Dieser Einsicht – so zentral für unser Zeitalter der Wissensgesellschaft – widmet sich auch die Kulturgeschichte vermehrt, indem sie Formen von Wissen und deren konkrete Verbindungen zur Gesellschaft untersucht.

Die Wissensgeschichte analysiert den gesellschaftlichen Stellenwert und die Zirkulation verschiedener Wissensformen. Weniger wissensproduzierende Institutionen, sondern etwa der Alltag, die Praxis und die Lebenswelt von Wissenschaftler_innen werden untersucht. Wie entsteht etwa in einem Labor Wissen? Auch die Rolle von Wissen in der Alltagskultur wird reflektiert. Wie wird Wissen also ‚wissenswert‘ für Menschen?

Die Vorlesung soll in die historische Analyse von Wissen einführen. Wissenssoziologisch wird zunächst reflektiert, wie Wissen überhaupt zu Wissen wird. Wie etwa erhält es gesellschaftliche Akzeptanz und dadurch Verbreitung? Zentrale Einsicht ist, dass Wissen ein soziales Konstrukt ist: Es wird von den soziokulturellen Rahmenbedingungen seiner Produktion – etwa im ideologisierten Umfeld des Kalten Krieges – (mit)geformt und formt dann diese Umwelt wiederum neu. Aber auch unbelebte Alltagsobjekte können Wissensproduktion (vor-)strukturieren und damit aktiv das Ergebnis beeinflussen. Darauf aufbauend soll diskutiert werden, ob Wissen, wie etwa von Philipp Sarasin vorgeschlagen, das Potenzial hat, die beiden vorhergehenden Deutungsmuster des Historischen – die Nation/das Politische sowie die Gesellschaft/das Soziale – abzulösen, oder ob es nur eine weitere Analysekategorie der Geschichte darstellt.

Simon Ottersbach ist Doktorand der Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Stipendiat und Wissenschaftliche Hilfskraft am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) Gießen. Zuvor studierte er Geschichte, Englische Sprache, Literatur und Kultur, Erziehungswissenschaft und Sozialkunde an den Universitäten Regensburg und Sheffield, England. Seine jetzige Forschung konzentriert sich auf die transnationale Geschichte von Wissen und Wissenschaft mit Fokus vor allem auf der Rolle von Radio Freies Europa als Wissensproduzent im und über den Kalten Krieg.

 

1.12. Technologie ist Identität! Eine neue kulturgeschichtliche Perspektive der Technikgschichte

Ist es möglich, Arme und Schwarze nur durch den Bau von Brücken über eine Autobahn in den USA des frühen 20. Jahrhunderts auszuschließen? Können wir uns eine Straße wie die „Blue Ridge Parkway“ und sein deutsches Pendant – die deutsche Alpenstraße – aus den 1930er Jahren, so vorstellen, dass sie eine bestimmte nationale Qualität besitzen, sei sie amerikanisch oder deutsch? Könnte es sein, dass die Gyeongbu Autobahn in Südkorea in den 1960er Jahren die „wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber Nordkorea und somit einen Schritt in Richtung Vereinheitlichung“ des kommunistischen Nordens mit dem kapitalistischen Süden erreichen wird? Oder können wir zum Beispiel behaupten, dass die "Brüderlichkeit und Einheit", die 1180 km Autobahnfahrt durch das ehemalige Jugoslawien, darauf abzielt, den Fortschritt und die Modernisierung der "neuen sozialistischen Menschen" zu zeigen?

Auf Basis dieser und anderer historischer Beispiele für großtechnische Infrastrukturprojekte aus der ganzen Welt wird sich diese Vorlesung auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Technik und Identität, zwischen „nation building and road building“ (Michael Bess: „Routes of Conflict: Building Roads and Shaping the Nation in Mexico, 1941-1952“) beziehen. Darüber hinaus werden konservative historische Ansätze zur Technik vorgestellt, die Technik nur als Werkzeug verstehen oder sie zum technologischen Determinismus vereinfachen. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen behauptet der Historiker Thomas Hughes, dass großtechnische Systeme „are both socially constructed and society shaping” („gesellschaftlich gestaltet und Gesellschaft gestaltend sind“; Thomas P. Hughes, 1989. „The Evolution of Large Technological Systems“). Davon ausgehend werden einige breitere Schlussfolgerungen darauf hindeuten, wie man Technik aus kulturhistorischer Perspektive angehen soll/kann.

Lyubomir Pozharliev studierte Soziologie an der Universität Sofia "Hl. Kliment Ohridski" (BA) und erlangte seinen Master of Arts in "Comparative History of Central, Eastern and Southeastern Europe" an der Central European University, Budapest. Zurzeit ist er Doktorand an der Justus-Liebig-Universität und an der Universität Sofia "Hl. Kliment Ohridski". In seiner Promotion beschäftigt er sich mit Verkehrsinfrastruktur und deren sozialer und gesellschaftlicher Rolle im sozialistischen Bulgarien und Jugoslawien.

 

Konzepte

 

8.12. (An)Ordnungen in 3D: Raum in der Geschichtswissenschaft

„Raum in der Geschichte? Sie meinen also die  Geschichte der Raumfahrt?“ Diese Reaktion, besonders aus dem Nicht-akademischen Umfeld, verdeutlicht, dass ‚Raum‘ einerseits als alltagssprachliches Wort ein ‚Ding‘ meint, welches im weitesten Sinne einen ‚Container‘ beschriebt. Dass es darüber hinaus auch ein Konzept ‚Raum‘ gibt, und dass diese Tatsache durchaus zu Verwirrung führen kann, soll in dieser Veranstaltung verdeutlicht werden.

Der erste Teil der Vorlesung befasst sich daher mit der Kategorie ‚Raum‘, welche besonders in der neueren Forschung Anwendung findet. Dass diese Kategorie aber dennoch einen historiographischen Werdegang (vom ‚Containerraum‘ zum Konzept ‚Raum‘) aufweist und besonders dabei in ihrer Bedeutung Wandlungen unterworfen war, wird in dieser Sektion thematisiert. Auch werden anhand von Beispielen die möglichen Nutzungen räumlicher Ansätze (Welcher Raumbegriff wurde für welche Herangehensweise bisher benutzt?) in der neueren Forschung aufgezeigt.

Ausgehend von neueren Raumkonzepten werden, daran anschließend im zweiten Teil der Vorlesung, Beispiele aus der historischen Raumforschung präsentiert und in ihrer Herangehensweise beleuchtet. (Die Beispiele kommen vornehmlich aus der Friedhofs und Kirchenforschung, der historischen Stadtforschung etc. Dabei werden Schnittstellen zu anderen historiographischen Konzepten aufgezeigt (Diskurs und Raum, Öffentlichkeit, Medienräume, Sozialraum, Sozialgeographie etc.).

Ziel der Veranstaltung ist es, den Studierenden die Geschichte räumlicher Ansätze und die Verflechtungen und Unterschiede zwischen physischem Raum und Raum als Konzept darzulegen und die Studierenden anzuregen und zu befähigen, räumliche Ansätze in der Forschung zu erkennen und zu nutzen.

Sebastian Zylinski studierte an der Universität Erfurt Geschichts- und Religionswissenschaft und schloss diese mit dem Magistergrad ab. Zwischen 2012 und 2014 arbeitete er am Lehrstuhl für Geschichte und Kulturen der Räume an der Universität Erfurt als Wissenschaftliche Hilfskraft und Teaching Assistent. Seit 2014 ist er Doktorand am Graduate Centre for the Study of Culture an der Justus-Liebig-Universität in Gießen mit seinem Dissertationsprojekt zu Dependenzen zwischen Sklavereidiskursen und Praktiken der Sklavereiauslösung im Vergleich zwischen den Hansestädten und der Metropole Neapel.

 

15.12. Die Konstruktion des 'Anderen': Translation und Kulturgeschichte

Kolumbus’ geographisches Missverständnis und die Benennung des Unbekannten (= der ehemaligen Bewohner Lateinamerikas) als Indio ist das bekannteste Beispiel einer Konstruktion des Anderen, ein othering, das die Beziehungen zwischen Europa und weitere Teile der Welt bis heutzutage kennzeichnet. Das ist nur ein historisches Beispiel, in dem es nachvollziehbar wird, wie aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen (Fremden) Bilder (Vorstellungen, Eindrücke) entstehen, die durch kulturelles Handeln, Verständnis oder Missverständnis bestimmt werden. Dabei werden Darstellungen des Anderen konstruiert und durch ethnologische, soziologische, politische oder historische Diskurse als das ‚Andere‘ vermittelt (z. B. ‚Indianer‘ aus dem Amazonas, ‚Schwarze‘ aus Afrika usw.). Dies ist kein einmaliges Ereignis in der Geschichte, sondern eine Art zeitloser transformativer Prozess, in dem mehrere Akteure interagieren und in dem Alterität oder Andersheit immer wieder ‚gelesen‘ und ‚geschrieben‘ wird.

Ziel dieser Vorlesung ist es, die Konstruktion des ‚Anderen‘ in der Geschichte als Produkt von Translationsprozessen zu verstehen. Die Translationswissenschaft (auch bekannt als Übersetzungswissenschaft), ebenso wie die Geschichtswissenschaft, entwickelt ihre Forschungsobjekte aus der Analyse räumlich-temporal entfernter ‚Texte‘, deren Interpretation nicht nur eine sprachliche Übertragung oder einen bloßen kulturellen Transfer bedeutet.

In dieser Vorlesung sollen Erkenntnisse über die Konstruktion des ‚Anderen‘ am Beispiel des Bildes südamerikanischer Indigener im deutschsprachigen ethnologischen Diskurs vom Anfang des 20. Jahrhunderts diskutiert werden. Dies soll vor allem zum besseren Verständnis der Ethnologie der damaligen Zeit und zu einer Neubewertung der ‚Geschichte‘ indigener Kulturen dienen.

Johanna Fernández Castro ist Stipendiatin am International Graduate Center for the Study of Culture (GCSC) Gießen. Sie ist ehemalige DAAD Stipendiatin und absolvierte den Master Sprache, Kultur und Translation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschung konzentriert sich auf die textuelle und visuelle Repräsentationen von indigenen Kulturen des südamerikanischen Regenwaldes in der deutschsprachigen Ethnologie. Ihre akademischen Interessen umfassen Translations- und Kulturwissenschaft, Ethnologie und Geschichte.

 

12.1. „Don‘t Call Me White!“ Weiß-Sein als kulturgeschichtliche Analysekategorie

Auf ihrem 1994 erschienen Album Punk in Drublic singt die amerikanische Punkband NOFX im Song „Don‘t Call Me White“: „The connotations wearing my nerves thin; Could it be semantics generating the mess we‘re in? I understand that language breeds stereotype; But what’s the explanation for the malice, for the spite?“ Die Band nennt bestimmte Stereotype, die mit Weiß-Sein verbunden sein sollen, und drückt ihre Frustration darüber aus. Wieso also möchten weiße Jugendliche nicht mehr als weiß bezeichnet werden? Und wie sollte man überhaupt seine Hautfarbe ablegen können, die doch eine biologische Gegebenheit zu sein scheint?

Wie kann die Analysekategorie Weiß-Sein nun in der Kulturgeschichtsschreibung verwendet werden? Der interdisziplinäre Ansatz der Whiteness Studies versteht weiße Identität als spezifische soziale Konstruktion und untersucht dessen jeweiligen historischen, kulturellen und ideologischen Entstehungsbedingungen. Seit den 1990er-Jahren ist dieses Feld in den akademischen Diskursen der USA als anti-rassistische Theorie etabliert. Trotzdem – oder gerade deswegen – wird die Disziplin bis heute auch vehement abgelehnt. In hiesigen akademischen Diskursen sind die Whiteness Studies umstritten, da Deutschland von einer grundverschiedenen Vorstellung zentraler Kategorien wie Rasse, Migration oder Integration geprägt und dieses Forschungsfeld deshalb nicht auf den deutschen Kontext übertragbar sei.

Im ersten Teil dieser Vorlesung werden die wichtigsten zeitgenössischen Denkschulen der Whiteness Studies vorgestellt. Der zweite Teil wird sich dann mit konkreten Anwendungen befassen: Zunächst wird Robyn Wiegmans beispielhafte Untersuchung des Films Forrest Gump und seiner versteckten Fortschreibung weißer Privilegien thematisiert. Anschließend wird besprochen, wie die sog. „Mischlingskinder“ (Kinder von afro-amerikanischen Besatzungssoldaten und weißen Frauen) in der Geschichtsschreibung dargestellt werden. Anhand der beiden Fallbespiele sollen so die Vor- und Nachteile dieser Untersuchungskategorie kritisch diskutiert werden.

Robert Winkler hat Amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte sowie Philosophie in München und Istanbul studiert. Er promoviert an der Justus-Liebig Universität Gießen und ist Mitglied des International Graduate Centre for the Study of Culture. Sein Dissertationsprojekt analysiert Weiß-Sein in der amerikanischen Hardcore Punk Subkultur im Kontext rassischer Diskurs der 1980er-Jahre; weitere Forschungsinteressen umfassen Literatur-und Kulturtheorie sowie African American Studies.

 

19.1. Geht Geschichte ohne Frauen? Gender als historische Forschungskategorie

Mädchen oder Junge? Die erste Frage, die nach der Geburt eines Kindes gestellt wird, ist die nach dem Geschlecht. Das biologische Geschlecht (sex) wird zu einem grundlegenden Identitätsmerkmal eines Menschen und gilt als zentrale Achse einer Gesellschaftsordnung. Gender, das soziokulturelle Geschlecht, verweist neben class und race u.a. auf Vorstellungen von Mann- und Frausein und spiegelt Macht- und Herrschaftsverhältnisse wider. Gender prägt die Lebenswirklichkeit der Menschen und unterliegt historischen Wandlungsprozessen – genau dies macht das Konzept für die kulturhistorische Forschung interessant: Simone de Beauvoirs Le deuxième sexe (1949) [Das andere Geschlecht, 1951] gilt als Anfang einer zweiten Frauenbewegung, die schließlich als kritische Gesellschaftsanalyse Eingang in den akademischen Diskurs fand. Seit den 1980er Jahren wenden Historiker_innen im Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte Fragestellungen aus den Women’s und Gender Studies auf historische Themen an; so schreiben sie gegen eine Geschichte ohne Frauen an – doch wie?

Diese Sitzung gibt einen Einblick in die Frauen- und Geschlechtergeschichte und diskutiert, welche Chancen und Herausforderungen sich neben der Frauengeschichte durch den Gender-Blick auf die Vergangenheit ergeben. Anhand eines Beispiels aus der laufenden Forschung zu Gender in der Sowjetunion wird gefragt, ob es zudem kulturelle Unterschiede in der Herangehensweise bei der Erforschung von Geschlecht gibt.

Den Studierenden eröffnen sich durch die historische Forschungskategorie Gender somit alternative und kritische Sichtweisen auf die bisherige Geschichtsschreibung, die sie für ihre eigene wissenschaftliche Arbeit fruchtbar machen können.

Katharina Kühn studierte Sprachen-, Wirtschafts- und Kulturraumstudien mit angloamerikanischem und ostmitteleuropäischem Schwerpunkt und arbeitete danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Slavische Literaturen und Kulturen der Universität Passau. Seit Oktober 2013 ist sie Doktorandin am International Graduate Centre for the Study of Culture und promoviert zum Thema „Gender under_ground – Feminismen und alternative Kultur in Russland“. Neben Auslandsaufenthalten in Großbritannien und Spanien arbeitete sie als Sprachassistentin für das Goethe-Institut in Russland und als Übersetzerin in einem Naturpark auf Kamtschatka. Im Rahmen ihrer Forschung kam sie im Herbst 2014 in Moskau mit aktuellen feministischen und Menschenrechtsgruppen in Kontakt.

Forschungsinteressen: Russland/Sowjetunion, alternative Kulturen, Gender studies, Erinnerungskultur.

 

Quellen

 

26.1. Die vergessene Erinnerung: Auto-/Biographie, Gedächtnisforschung und die Kulturgeschichte

Die Geschichte als Erzählform und Wissenschaft speichert ausgewählte Fragmente der Vergangenheit und stellt sie dar. Die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung zeigt, dass die Geschichte jedoch kein Monopol darauf hat. Dieser Vortrag stellt eine längere Geschichte der Erforschung des kulturellen Gedächtnisses aus multidisziplinärer Sicht vor. Er stellt die vorherrschende Sicht in Frage, dass die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Erinnerungspraxen mit dem sog. memory boom des späten 20. Jahrhunderts erst begonnen habe.

Die frühe soziologische Forschung hat die soziale Bedeutung vom Gedächtnis konzipiert und schon vor dem Ersten Weltkrieg Quellen wie Briefe und Tagebücher von ‚gewöhnlichen Menschen‘ ausgewertet. Derartige Quellen sind erst später zu typischen kultur- bzw. sozialhistorischen Quellen geworden. Darauf aufbauend werden im Vortrag die wissenschaftlichen, staatlichen und medialen Versuche, historische Erfahrung ‚vom unteren Ende‘ der Gesellschaft zu beschreiben – und manchmal zu instrumentalisieren – vorgestellt. Beispiele aus der deutschen, polnischen, britischen und postkolonialen Historiographie, sowie die neueren Einsichten aus der kulturellen Erinnerungsforschung, sollen diese Vorlesung schließen.

Während des Vortrags soll die Frage behandelt werden, ob und wie die Geschichtsschreibung Aussagen ‚von unterem Ende‘ der Gesellschaft Autorität zugesteht. Damit werden Anknüpfungspunkte an die Vorträge der Ringvorlesung zur Mikrogeschichte und oral history geschaffen. Die Wende zur populären Erinnerung als Untersuchungsgegenstand stellt einen Bruch mit den historiographischen Meistererzählungen dar, denn dadurch wird die Deutungshoheit des erzählenden Historikers in Frage gestellt und die Geschichte selbst fragmentiert.

Den Student_innen soll dieser Vortrag verdeutlichen, wie wertvoll, aber auch wie problematisch es aus methodologischer, heuristischer und quellenkritischer Sicht sein kann, historiographisch mit auto-/biographischen Quellen und populären Erinnerungsformen zu arbeiten.

Paul Vickers arbeitet seit 2014 als Postdoc am GCSC der Justus-Liebig-Universität. Seine Doktorarbeit schrieb er an der Universität Glasgow (Schottland) zum Thema der Beziehungen zwischen der wissenschaftlicher Forschung, der Zensur, dem offiziellen Gedächtnis und der populären Erinnerung unter Dorfbewohner in der Volksrepublik Polen. Während seines interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Magisterstudiums in Glasgow hat er seine Interessen an der kulturellen- und populären Erinnerungskulturen Polens und Deutschlands vertieft. Sein Interesse an diesem Thema wurde während seines Bachelorstudiums der Polonistik und Germanistik an der University College London geweckt. Sein Habilitationsprojekt wird ein Versuch sein, eine auf dem Ansatz der Longue-Durée basierende komparatistische Kulturgeschichte von zwei in der Frühen Neuzeit neugegründeten Städten (Zamość und Stanislau/Iwano-Frankiwsk) zu schreiben.

 

2.2. Normative Quellen neu lesen: Kulturpolitik in der Kulturgeschichte

Kultur ist von zentralem Interesse für die Politik moderner Staaten. Die Betonung von kulturellen Gemeinsamkeiten in Abgrenzung zu anderen fördert das Gefühl einer kollektiven Identität und dadurch den zumeist nationalen Zusammenhalt. Diese Vorlesung behandelt die Kulturpolitik als Gegenstand der Geschichtswissenschaft und stellt methodische und theoretische Zugänge vor, um sich dieses stark von Normen geprägte Feld zu erschliessen.

Die deutschsprachige Forschung zu Kulturpolitik beschäftigt sich immer noch stark mit verschiedenen Kunstformen wie bildender Kunst, Musik und Theater. Die Kulturpolitik umfasst jedoch deutlich mehr, da sie darauf abzielt, individuelle Identitäten und Praktiken aus dem Alltag in Bezug zu einer staatlichen Gemeinschaft zu setzen. Dabei ist das Verständnis von Kultur selbst dem historischen Wandel unterworfen und sollte in der geschichtswissenschaftlichen Analyse entsprechend historisiert werden.

Da kulturpolitische Quellen zumeist normative Quellen (wie Gesetze und Regierungsprogramme) sind, wird sich die Vorlesung auf die Frage konzentrieren, wie man Kulturpolitik jenseits der präsentierten staatlichen und institutionellen Normen fassen kann. Dies bedeutet in erster Linie ein kritischer Umgang mit diesen Quellen selbst, aber auch der Einbezug weiterer geeigneter Quellensorten, die Kultur beschreiben, einordnen und die staatlichen Positionen kritisieren. Dadurch eröffnet sich eine neue Perspektive darauf, wie man normative Quellen im Sinne einer Abkehr von der Meistererzählung auch ‚von unten‘ lesen kann.

Corinne Geering ist seit Oktober 2013 Doktorandin in Osteuropäischer Geschichte am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit internationaler Zusammenarbeit in der Bewahrung des kulturellen Erbes in der späten Sowjetunion, mit besonderem Fokus auf die politische Transformation in Russland. Zuvor schloss sie das Bachelorstudium in Philosophie in Zürich, Bern und Prag ab und absolvierte den Master im interdisziplinären Programm World Arts am Center for Cultural Studies an der Universität Bern. Ihre Forschungsinteressen umfassen Identitäts- und Kulturpolitik, Kulturgeschichte der Sowjetunion, populäre Vergangenheitsdarstellungen, die Geschichte internationaler Organisationen sowie Theorien des Transnationalismus.