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Die Kollektivierung internationaler Sicherheit durch völkerrechtliche Institutionalisierungsprozesse

Der Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht (Professor Dr. Thilo Marauhn, M.Phil.) am Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen ist Teil des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs/Transregio 138 „Dynamiken der Sicherheit“, der gemeinsam mit der Philipps-Universität Marburg etabliert wurde, und in welchem Formen der Versicherheitlichung, vor allem aus historischer Perspektive, untersucht werden. Der Sonderforschungsbereich ist am 1. April 2014 angelaufen und Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ist zunächst bis zum 31. Dezember 2017 garantiert. Der Sonderforschungsbereich umfasst 19 Teilprojekte an beiden Universitäten – und damit mehr als 70 Wissenschaftler, von Doktoranden bis hin zu Professoren -, von denen jedes einen eigenen Forschungsansatz zur Versicherheitlichung beiträgt (juristische, historische, soziologische, politikwissenschaftliche und kunsthistorische Teilprojekte). Gemeinsam werden diese Projekte ein kohärentes und umfassendes Verständnis davon erzeugen, wie Versicherheitlichung im Laufe der Epochen in verschiedene politische Prozesse gelangte. Der Lehrstuhl Marauhn wird mit einem Forschungsprojekt zu dieser Agenda beitragen, welches die Geschichte des Völkerrechts in den Fokus nimmt.
Unser Forschungsteam besteht aus Prof. Dr. Thilo Marauhn, Dr. Reut Yael Paz und Marie-Christin Stenzel. Ziel ist es, die Kollektivierung internationaler Sicherheit durch Institutionalisierungsprozesse im Völkerrecht zu analysieren. Die Projektbearbeiter fragen danach, ob und unter welchen Voraussetzungen die Wahrnehmung und Charakterisierung zwischenstaatlicher Beziehungen als Sicherheitsproblem nicht nur Impulse zur Verrechtlichung und völkerrechtlichen Institutionalisierungsprozessen gibt, sondern auch die Kollektivierung internationaler Sicherheit auslöst. Inwieweit sahen (ausgewählte) Akteure in der fortschreitenden Institutionalisierung des Völkerrechts, die im 19. Jahrhundert mit Schaffung der ersten internationalen (Verwaltungs-)Organisationen (wie der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt oder der Internationalen Fernmeldeunion) einerseits, und der Einrichtung der ersten universitären völkerrechtlichen Lehrstühle andererseits begann, und sich über Schaffung des Völkerbundes bis hin zur Gründung der Vereinten Nationen entwickelte, einen subjektiven Gewinn an Sicherheit? Warum wurde der Weg der immer umfassenderen Kollektivierung von Sicherheit gewählt, während aktuell vermehrt Tendenzen der Entkollektivierung, durch Hinwendung zu bilateralen und regionalen Kooperationen zu beobachten sind?
Die Annäherung an die gestellten Fragen soll anhand zweier Monographien und mehrerer, teils gemeinsam verfasster Aufsätze geschehen.
Frau Dr. Reut Yael Paz wird sich in ihrer Monographie mit dem Titel: Remedying International Legal Theory and Practice by Military Legal Advisors mit den Problemen bezüglich der militärischen rechtlichen Expertise in ihrem westlichen und historischen Kontext befassen.
Das Hauptziel der Forschungsarbeit von Dr. Paz ist es, den historischen Prozess, der zur Folge hatte, dass Rechtsberatung innerhalb der Streitkräfte nötig wurde, zu untersuchen. Im engeren Sinne wird Dr. Paz über die militärischen und/oder rechtlichen Berater, welche als individuelle Experten für gewöhnlich Teil des kontinuierlichen Diskurses zwischen der Exekutive, der Judikative und der Legislative in Zeiten des Friedens, jedoch hauptsächlich in Zeiten des Krieges sind, recherchieren. Obwohl der Bedarf, internationale rechtliche und militärische Expertise zu kombinieren nicht paradox ist, bleibt er hochsensibel: am Ende bleibt die Fähigkeit des Rechtes zur Einhegung internationaler Gewalt herausfordernd, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene. Dies ist besonders schwierig, wenn von einer Person erwartet wird „dem Recht zur Macht zu verhelfen“ und „dem Recht Macht zuzusprechen“; um rechtliche und militärische Notwendigkeiten in Echtzeit zu manövrieren. Können diese Experten dies tun und weiter dem Gesetz treu bleiben? Kann dies geschehen ohne die führenden Ziele des Militärs zu behindern? Diese Untersuchung soll dazu dienen – von einem historischen, rechtsvergleichenden, methodischem Ansatz aus – aufzudecken ob, aber was noch wichtiger ist, wie die Professionalisierung der rechtlichen/militärischen Beratern trotz der nachhaltigen Zerrüttung, die zwischen rechtlichen und militärischen Belangen existiert, zustande gekommen ist.
Man nehme beispielsweise nur den sogenannten „Lieber Code“, der sich bis ins Jahr 1863 zurückdatieren lässt, als Präsident Lincoln den in Preußen geborenen Francis Lieber, einen Professor der Geschichte und der Volkswirtschaftslehre am South Carolina College, angeordnet hat „die Befehle für die Leitung der Armeen der Vereinigten Staaten an der Front“ vorzubereiten (Heeresbefehl 100 an die Vereinigten Streitkräfte). Die Tatsache, dass andere Länder bald dieser Praxis gefolgt sind, macht die historischen Umstände des Codes noch bedeutsamer, insbesondere weil er sodann in Artikel 1 der Haager Konvention IV (1907) verankert wurde, welcher wohl als internationales Gewohnheitsrecht seit 1939 anerkannt war. Die Pflicht, für rechtliche Beratung des Militärs zu sorgen, bekommt mit Artikel 82 des Zusatzprotokolls (1977) der Genfer Konvention (1949) noch mehr Aufmerksamkeit. Die Fokussierung auf die/den speziellen rechtlichen/militärischen Berater_in und ihre/seine sozial-ökonomischen Umstände, die inter alia den Inhalt ihrer/seiner rechtlichen Beiträge beeinflussen, hilft, die notwendigen Einblicke in die allgemeinere Tätigkeit, aber was noch bedeutender ist, in die zukünftigen Möglichkeiten und Rollen für die militärischen und/oder internationalen rechtlichen Berater, zu bekommen.
Komplementär zu Frau Dr. Paz Vorhaben hat Marie-Christin Stenzels Untersuchung einen deutlicher geographisch definierten Fokus. Während das generelle Augenmerk ihrer Dissertation auf dem Europäischen Konzert der Großmächte liegt, jener Praxis, die sich nach dem Wiener Kongress 1815 herausbildete und bei welcher die europäischen Großmächte gemeinsam mittels neuer, diskursiver Formen der Diplomatie Verantwortung für den Frieden in Europa wahrnahmen, wird sie den Blick insbesondere auf die Rolle Großbritanniens in diesem System lenken. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass das Vereinigte Königreich unter den europäischen Großmächten in zweifacher Hinsicht eine herausragende Rolle innehatte: Einerseits lehnte Großbritannien die Rechtfertigung von Interventionen (jedenfalls innerhalb Europas) umfassender als die übrigen Großmächte ab, was zu erheblichen Spannungen und schließlich dem Auseinanderbrechen des Konzerts führte. Andererseits war Großbritannien im frühen 19. Jahrhundert die führende See-, Handels- und Industriemacht und verfügte über ein weltumspannendes Imperium, weshalb seine Sicherheit nicht nur vom Staatensystem auf dem europäischen Festland abhing.
Großbritanniens Haltung im Europäischen Konzert des 19. Jahrhunderts wirft spannende, aus juristischer Sicht noch nicht vollständig geklärte Fragen auf: Nach welcher Maßgabe versprach sich eine Weltmacht, die sich zumindest auch über ihre Isolation definierte, von der Eingliederung in ein Staatensystem mit differenzierten und jedenfalls partiell verbindlichen Regeln der Konfliktlösung eine Erhöhung der eigenen Sicherheit? Welche Absichten und welche Zielvorstellungen verband das Vereinigte Königreich mit der Ablehnung eines Interventionsrechts, zumindest im Verhältnis der europäischen Mächte untereinander? Welche Rolle spielten das britische Parlament und die öffentliche Meinung in diesem Kontext? Welche Konsequenzen für die Staatenpraxis hatte es, wenn etwa Lord Castlereagh, britischer Außenminister und Hauptbevollmächtigter Großbritanniens auf dem Wiener Kongress, in einem geheimen Staatsdokument des Jahres 1820 feststellte: „(…) it is of the greatest moment, that the public sentiment should not be distracted or divided, by any unnecessary interference of the Government in events, passing abroad“. Welche sicherheitspolitischen Erwägungen flossen also in die britische Staatenpraxis, insbesondere im Hinblick auf Interventionen, ein und inwieweit ließ sich diese Staatenpraxis auch von der damals gerade aufkommenden Völkerrechtslehre beeinflussen? Kann man davon sprechen, dass sich während und in den Jahren nach Auseinanderbrechen des Europäischen Konzerts erstmalig institutionalisierte Normen zur Rechtmäßigkeit von Interventionen in anderen Staaten (sowohl Mitgliedern der europäischen Pentarchie als auch Drittstaaten) herausbildeten? Wenn dem so ist, wie stark waren diese durch die britische Sonderhaltung beeinflusst, und in welchem Maße banden sie die Staaten? Und allgemeiner: Kann das Europäische Konzert als Keimzelle der internationalen Institutionalisierung von Recht, gar als ein Vorläufer des Völkerbunds im Sinne eines Systems institutionalisierter kollektiver Sicherheit betrachtet werden? Um diese Fragen zu ergründen, wird Stenzel in Ihrer Arbeit sowohl Verträge und Beschlüsse des Konzerts mit britischer Beteiligung, als auch diplomatische und wissenschaftliche Korrespondenz zu den rechtlichen Implikationen des Europäischen Konzerts analysieren