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Kleine Terrakottaköpfe mit Polos aus Lukanien

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

Zwei weibliche Terrakottaköpfchen in der Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen können durch entsprechende Vergleichsbeispiele lukanischen Werkstätten zugeordnet werden. Daher soll die Landschaft Lukanien, die im Kern mit der heutigen süditalienischen Region Basilikata übereinstimmt, kurz vorgestellt werden. Sie erstreckt sich zwischen dem Tyrrhenischen Meer im Westen und dem Golf von Tarent im Osten und schloss zunächst auch das später in Kampanien integrierte Paestum / Poseidonia mit ein. Ihren Namen erhielt die Landschaft im 3. Jh. v. Chr. nach dem italischen (oskischen) Volk der Lukaner. Schon seit der Mitte des 7. Jhs. v. Chr., als Kolonisten aus dem kleinasiatischen Kolophon dort die Stadt Siris gründeten[1], stand die Region unter starken griechischen Einflüssen. Siris konnte sich jedoch nur etwa 100 Jahre lang halten. 433/32 v. Chr. entstand in geringer Entfernung, als Tochterstadt von Tarent und Thurioi, Herakleia, das man zur Unterscheidung von anderen Städten mit dem Namen des göttergleichen Helden Herakles als Heracleia Lucania bezeichnete. Seit 330 v. Chr. bemühten sich die Lukaner um ein Bündnis mit Rom, wechselten jedoch in den folgenden Kriegen verschiedentlich die Seiten. Herakleia war eine der ersten lukanischen Städte, die einen Vertrag mit Rom schlossen (civitas foederata). Anfang des 1. Jhs. v. Chr. wurde es römisches Municipium[2], was mit dem vollen römischen Bürgerrecht verbunden war.

Vom 7. Jh. v. Chr. an blühte in den Kolonien, ebenso wie im griechischen Mutterland, die Herstellung von Tonfiguren, die in Heiligtümer geweiht und als Grabbeigaben verwendet wurden.

Die beiden mit einem Polos bekrönten kleinen Köpfe in Gießen, Inv. T I-10 und T I-11, gleichen archaischen Köpfen von Terrakottastatuetten lukanischer Provenienz, bei denen es sich vornehmlich um stehende und thronende Frauengestalten[3] handelt. Sie tragen meist lange Gewänder, erscheinen aber auch einmal in göttlicher (aphrodisischer) Nacktheit[4]. Vergleiche zeigen, dass ihre Matrizen gelegentlich zur Herstellung von Jünglingsgestalten verwendet werden konnten[5]. Die Wölbung der Brüste war so zurückhaltend angegeben, dass die Matrizen für Körper beiderlei Geschlechts zu gebrauchen waren. Anschließend fügte man entweder männliche Genitalien an[6], oder man schmückte den Kopf mit einem Polos. Auch der Gestus des Vorstreckens der Unterarme und die nach oben gewandten Handflächen sind nicht geschlechtsspezifisch. Sie kommen in Metapont ebenso wie in Poseidonia den weiblichen und männlichen Gottheiten bzw. Adoranten gleichermaßen zu[7].

Charakteristisch für die großgriechische Tonplastik archaischer Zeit ist eine Haartracht, bei der verhältnismäßig breite flache Strähnen in die Stirn fallen[8]. Die einzelnen Werkstätten pflegten dies ein wenig zu variieren. So sind die Strähnen in Lokroi Epizephyrioi gewöhnlich plastisch gewölbt und ihre Enden zungenartig gerundet[9], während die eher flachen Strähnen der Statuetten aus Metapont, Herakleia oder Sybaris waagerecht enden[10]. Meist ist die Konturlinie des Stirnhaars durch Verkürzung der mittleren Strähnen unterbrochen[11]. Dagegen zeigen die flachen Bögen der Inv.- Nr. T I-10 und T I-11, ebenso wie Exemplare aus Metapont[12] und Paestum[13] eine Kontinuität, die  möglicherweise auf die Nähe der Gießener Köpfchen zu den beiden genannten Werkstätten hinweist.



[1] M. Lombardo, Greci, Enotri e Lucani nella basilicata meridionale (Neapel 1996) 15.

[2] Die Jahreszahl  278 v. Chr. ist nicht ganz gesichert, s. z. B. D. Feil, Geschichte von Siris und Herakleia, in: B. Otto, Herakleia in Lukanien und das Quellheiligtum der Demeter (Innsbruck 1996) 34 f. und Anm. 50.

[3] Aus Metapont: G. Olbrich, Archaische Statuetten eines Metapontiner Heiligtums (Rom 1979), 232 f. Nr. C 78 Taf. 62; Die Neue Welt der Griechen (Köln-Mainz 1998) 122 Abb. 51; aus Sybaris: G. Olbrich, Verwandtes und Benachbartes zu den archaischen Terrakotten aus dem Demeter-Heiligtum von Herakleia, in: B. Otto (Hrsg.), Herakleia in Lukanien und das Quellheiligtum der Demeter (Innsbruck 1996), 182 Taf. 5, 1; aus Herakleia: M. Osanna – L. Prandi – A. Siciliano, Eraclea. Culti Greci in Occidente (Tarent 2008), 38-41 Taf. 9 c. d; aus Poseidonia: R. Miller Ammerman, The Naked Standing Goddess: A Group of Archaic Terracotta Figurines from Paestum, AJA 95, 1991,  204 f. Abb. 3. S. 209 Abb. 6; dies., The Sanctuary of Santa Venera at Paestum II. The Votive Terracottas (Michigan 2002), 41 Nr. 21 Taf. 5; Die Neue Welt der Griechen (Köln-Mainz 1998) 117 Abb. 41.

[4] z. B. R. Miller Ammerman, The Sanctuary of Santa Venera at Paestum II. The Votive Terracottas (Michigan 2002), 27 f. 39 f.

[5] R. Miller Ammerman, The Naked Standing Goddess: A Group of Archaic Terracotta Figurines from Paestum, AJA 95, 1991, 210 Abb. 7; dies. 2002, 38 Taf. 5 a.

[6] B. Otto (Hrsg.), Herakleia in Lukanien und das Quellheiligtum der Demeter (Innsbruck 1996), 111 f. Taf. 12, 4.

[7] R. Miller Ammerman, The Naked Standing Goddess: A Group of Archaic Terracotta Figurines from Paestum, AJA 95, 1991, 204 Abb. 1 und 210 Abb. 7.

[8] M. Barra Bagnasco, Protomi in Terracotta da Locri Epizefiri (Turin 1986), 41 f.

[9] Barra Bagnasco ebenda, 51 Nr. 61. 62 Taf. 11 .12  und S. 53 f. Nr. 64 Taf. 12.

[10] G. Olbrich, Verwandtes und Benachbartes zu den archaischen Terrakotten aus dem Demeter-Heiligtum von Herakleia, in: B. Otto (Hrsg.), Herakleia in Lukanien und das Quellheiligtum der Demeter (Innsbruck 1996) 182 f. Taf. 4, 2. 5, 2 und 6. 2.

[11] Zwei verkürzte Mittelsträhnen: aus Metapont: G. Olbrich 1979, 256 Nr. C 127 Taf. 72. S. 257 Nr. C 131 Taf. 73; aus Tarent: N. Poli, Collezione Tarentina. Coroplastica arcaica e classica (Triest 2010), 79. 83 f.  Nr. 49. 51. Vier verkürzte Mittelsträhnen: aus Metapont, Olbrich 1979, 157 Nr. A 122. A 123 Taf. 29; aus Locri: M. Barra Bagnasco 1986, 90 Nr. 141 Taf. 25. Sechs verkürzte Mittelsträhnen: aus Sybaris, M. N. Pagliardi, NSc Suppl. 28 (Rom 1974), 134 Abb. 118. 119. Aus Tarent, abgesehen von den geläufigen Exemplaren mit zwei verkürzten Mittelsträhnen, der abweichende Typus "Budapest - Saturo" mit einer Haarkappe, die in vertikale Streifen mit konkaver Oberfläche und bogenförmigen Enden gegliedert ist, , Á. Bencze, Early Votive Terracotta from Southern Italy, BMusHongr  2012, 49-68.

[12] Olbrich 1979, 116 f. A31 Taf. 8. 131 A65 Taf. 15. 149 f. A105 Taf. 23. 198 f. C9 Taf. 48; D. Adamesteanu, La Basilicata antica, Storia e monumenti (Neapel 1974) 58 d.

[13] R. Miller Ammerman, AJA 95, 1991, 204 Abb. 1 und  210 Abb. 7.