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Struktur des Romans

 

paul klee

Ein „Planspiel“ sei Winterspelt,

lässt Andersch wissen, eine

„Orgie an Komposition“,

kunstvoll in Façon gebracht, in

seiner strukturellen Anlage

entwickelt aus einem Bild von

Paul Klee.

 

Sein komplexer Aufbau

spiegelt die inhaltlichen

Facetten des Romans.

Während Andersch auf das

Aquarell „Rommersheim“

seiner Frau Gisela aus dem

Jahr 1941 als der Keimzelle

für die Grundidee des Romans

hinweist, verleiht Paul Klees

Bild „polyphon gefasstes

Weiß“ dem Roman in

zweifacher Hinsicht Struktur:

Inhaltlich wird es zum

Ausgangspunkt der Schefold-Reidel-Geschichte.

 

Der emigrierte und in den Wirren des Krieges zwischen den Fronten hin und her

wechselnde Kunsthistoriker Schefold hat es sich zur Aufgabe gemacht, Klees

Gemälde vor den Nazis zu retten. Zu diesem Zweck versteckt er es bei Hainstock im

Steinbruch von Winterspelt. Der Soldat Reidel, der mit beschämenden Erfahrungen

aufgrund seiner unterdrückten Homosexualität zu kämpfen hat, wird von seinen

traumatischen Erinnerungen an die Zeit als Hotelangestellter übermannt, als

Schefold sich mit einem Zehn-Dollar-Schein für seine Hilfsdienste bedanken möchte:

In dem Moment, in dem Schefold sich schon auf der sicheren amerikanischen Seite

wähnt, erschießt ihn Reidel.

 

Paul Klees Bild liegt zugleich der Romanstruktur zugrunde. „Das Bild ist ein Plan“,

sagt Käthe zu Hainstock, als sie das erste Mal das Bild Klees betrachtet. Käthe Lenk

ist sich im Roman der Wichtigkeit dieses Kunstwerks bewusst, als sie es im

Steinbruch vorsichtig aus der Verpackung herausholt. Andersch nutzt Klees Bild als

Bauplan: die szenenhafte, nicht chronologische Entwicklung der Handlungsstränge,

die Verknüpfung bzw. Überblendung verschiedener Figurenperspektiven auf das

Geschehen, entsprechen Klees Bildaufbau. Andersch verzichtet auf die chronologische

Abfolge der militärischen Ereignisse. Genau wie in Klees Bild bewegen sich die

Handelnden in unterschiedlicher Form (und Farbe) um den (weißen) Mittelpunkt.

Aus dieser sich gegenseitig überdeckenden und sich umspielenden Konstruktion

heraus ist es die Aufgabe des Lesers, die Komplexität der Perspektiven zu entwirren

und sich selbst ein Bild des Major Dincklage zu machen.

 

Anderschs planvolles Vorgehen wird besonders deutlich in dem detaillierten und

genau aufgeschlüsselten Handlungsschema, aus dem er seinen Text entwickelt. Aus

dem Entwurf wird deutlich, dass es sich bei Anderschs Roman nicht um einen

gewöhnlichen Kriegsroman handelt. Es findet keine bloße Nacherzählung, keine

Aneinanderreihung von Ereignissen statt. Es ist „ein Denkspiel, ein Problemhandeln

nach der Handlung“ (Klaus R. Scherpe). Andersch geht es um ein historisches

„Denkspiel“: „Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit

durch,“ heißt es programmatisch zu Beginn des Romans. Diese Möglichkeit besteht

darin, im literarischen Text eine Situation zu schaffen, die es in dieser Form im

historischen Kontext, in dem die Handlung situiert ist, zwar nicht gegeben hat, die es

aber durchaus hätte geben können:

 

Es hat aber nicht nur in der 416. Infanterie-Division, sondern auch in dem gesamten deutschen Heerbann, weder im Jahre 1944 noch vorher oder nachher, einen Offizier gegeben, der sich mit Absichten trug, wie sie hier dem Major Dincklage nachgesagt werden. Infolgedessen braucht sich nicht nur die 416. Infanterie-Division, sondern das deutsche Heer als Ganzes von diesem Bericht nicht betroffen zu fühlen. […] Aus diesen genannten Gründen konnte er auch nur in einer einzigen Form erstattet werden: als Fiktion.“


Die Geschichte um den Major Dincklage fungiert als Gedankenexperiment,

eingebettet in historische Begebenheiten eröffnet der literarische Entwurf seinen

Figuren Raum für Alternativen. In Form des ‚historischen Konjunktivs‘ bringt

Andersch Realität und Fiktion auf bedeutsame Weise zusammen.





Literatur:

Ächtler, Norman: Generation in Kesseln: Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945-1960. Göttingen 2013.

Andersch, Alfred: Winterspelt. Zürich 1977.

Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch: Eine Biografie. Zürich 1990.

Scherpe, Klaus R: Literarische Militanz gegen den Militarismus. In: Annette Korolnik-Andersch u. Marcel Korolnik (Hrsg.): Sansibar ist überall. München 2008.

Scherpe, Klaus R: Autor eines Kunstwerks. In: Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking (Hrsg): Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Opladen 1994.

Schütz, Erhard: Alfred Andersch. München 1980.