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Der Stillweg eines Frühgeborenen

17.01.2023: Welchen inhaltlichen und familiären Unterstützungsbedarf haben Mütter von Frühgeborenen hinsichtlich des Stillens und der Muttermilchernährung? In ihrer Masterarbeit untersuchte Lea Heymel in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Gesund ins Leben diese Fragestellung. Die Betreuung der Arbeit erfolgte durch Prof. Dr. Jasmin Godemann sowie Dr. Katharina Reiss, wissenschaftliche Referentin im Netzwerk. Das Netzwerk ist Teil der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung und entwickelt evidenzbasierte, bundesweit einheitliche und werbefreie Informationsmaterialien rund um das Thema Ernährung in der Schwangerschaft und Stillzeit sowie Säuglings- und Kleinkinderernährung.

Vom Inkubator über die Pflege in die Wissenschaft – mein Weg zu meinem Masterarbeitsthema 

Das Thema Frühgeburt betraf mich erst selbst, dann durfte ich Frühgeborene und Frühgeborenen-Eltern in meinem Beruf als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin begleiten. Was anfangs ein Beruf war, wurde für mich während meines Studiums der Ernährungswissenschaft zu einer Art Berufung. Bereits in meiner Bachelorarbeit befasste ich mich mit dem Thema Frühgeborenenernährung. Im Rahmen von drei Modulen im Fachbereich Kommunikation und Beratung entdeckte ich meine Leidenschaft für die Ernährungskommunikation. Insbesondere wollte ich mich auf die Kommunikation rund um das Stillen/die Muttermilchernährung fokussieren. Dank eines glücklichen Zufalls entstand über meine Bewerbung für eine Praktikumsstelle der Kontakt zum Netzwerk Gesund ins Leben. Genauer gesagt zu Frau Dr. Katharina Reiss, einer wissenschaftlichen Referentin im Netzwerk. Sie übernahm die Zweitbetreuung meiner Masterarbeit. Das Netzwerk ist Teil der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung und entwickelt evidenzbasierte, bundesweit einheitliche und werbefreie Informationsmaterialien rund um das Thema Ernährung in der Schwangerschaft und Stillzeit sowie Säuglings- und Kleinkinderernährung. Bedeutet: Sie sind ExpertInnen der Kommunikation rund um das Thema Stillen/Muttermilchernährung. Da ich in den bereits abgeschlossenen Masterarbeiten im Fachbereich Kommunikation und Beratung eine Masterarbeit gefunden hatte, die in Kooperation mit dem Netzwerk stattgefunden hatte, war das Feuer entfacht. Besser hätte es nicht laufen können. Gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Godemann und Frau Dr. Katharina Reiss entstand die Fragestellung, welchen inhaltlichen und familiären Unterstützungsbedarf Mütter von Frühgeborenen hinsichtlich des Stillens und der Muttermilchernährung haben. 

Wer ist alles Teil der Versorgung eines Frühgeborenen?

Möglichst echt und lebensnah, persönliche Erfahrungen, Gedanken und viele Perspektiven erfassen – das waren meine Ziele für die Bearbeitung meines Themas. Daher entschied ich mich für ein qualitatives Forschungsdesign mit leitfadengestützten Interviews. Sowohl Erstmütter, als auch Erstväter, ÄrztInnen, Gesundheits- und KinderkrankenpflegerInnen, Hebammen und die sozialmedizinische Nachsorge sollten befragt werden. Dabei war es besonders wichtig, sich in die Stärken und Schwächen der qualitativen Forschung hineinzuarbeiten. Ich wollte Allgemeingültigkeit und Nachvollziehbarkeit meiner Ergebnisse gewährleisten. Daher habe ich in den 183 Tagen Masterarbeit viel Zeit mit Lesen verbracht, um die Methode in- und auswendig zu können. Ohne Bibliotheken, Pubmed und JUST-Find wäre ich verloren gewesen. Von Baur & Blasius, Bogner & Menz, Dresing & Pehl, Flick, Gläser & Laudel, Helfferich, Hopf, Kruse, Kuckartz, Steinke und Mayring – sie alle fanden ihren Weg auf meinem Schreibtisch – ein Stepptanz durch die qualitative Sozialforschung. Ich führte die Interviews mit ExpertInnen und Erstmüttern im Wechsel durch, sodass ich Ergebnisse, die ich selbst nicht beachtet hatte, mit in das nächste Interview integrieren konnte. Ein Jonglierakt mit Terminen. Dennoch hat es sich gelohnt, denn es gab einige Aspekte, die ich trotz praktischer Berufserfahrung nicht bedacht hatte. Dies verdeutlicht die Individualität meines Themas. Am Ende meiner Datenauswertung bettete ich meine Ergebnisse in das Verhaltensmodell von Schluter et al. (2020) (siehe Bild) ein, um die vielfältigen Einflussmöglichkeiten auf das Stillverhalten einer Frühgeborenen-Mutter darzustellen.

Wenn das Leben früher beginnt, als erwartet  

Diese Vorgehensweise war genau richtig, um die persönlichen Sichtweisen und die individuellen Situationen der Erstmütter von Frühgeborenen zu erfassen. Frühgeborene starten mit einem zu geringen Gewicht und unreifen Organen ins Leben, sodass jeder neue Lebenstag ein Sieg und jedes Auf nach einem Ab ein kleines Wunder ist. Eine befragte Mutter sagte, ihre Tochter habe in der Zeit mehr geleistet, als so manche, die sie kennt, in ihrem ganzen Leben. Und ich finde das sehr treffend. Es ist eine handvoll Leben mit purem Kampfgeist und Überlebenskunst. Für Eltern ist diese Situation emotional sehr belastend, da sie sich unvorbereitet in einer unbekannten Situation wiederfinden. Eltern-Sein von jetzt auf gleich. Teils ohne Geburtsvorbereitungskurs, ohne das Kinderzimmer eingerichtet zu haben … ohne jegliche Vorbereitung. Fragen kommen auf, die man sich zuvor nicht gestellt hat: Was ist eine Frühgeburt? Wie wird ein Frühgeborenes ernährt? Kann ich mein Kind überhaupt stillen? Wie komme ich in die Milch? Schläuche, Kabel, Überwachungsmonitore, Medikamente, Infusionen, Magensonde, Milchpumpe, Frühgeborenenernährung – alles Informationen, die Eltern in den ersten Stunden nach der Geburt erhalten, die sie häufig als Informationsflut wahrnehmen. Durch die emotional herausfordernde Situation kann jedoch die Aufnahmefähigkeit der Mütter verringert sein. Mütter erfahren wie wichtig Muttermilch für die Gesundheit ihres Frühgeborenen ist und müssen in einer stressbehafteten Situation, häufig ohne Hautkontakt zum Kind, Muttermilch abpumpen. Nach einer Frühgeburt ist die Muttermilchbildung verzögert, sodass Mütter regelmäßig Muttermilch abpumpen müssen, um die Milchbildung anzuregen. Tag und Nacht. Eine Mutter beschrieb die Dreifachbelastung (Anlegen – Pumpen – Zufüttern) als Kampf. Jeder abgepumpte Tropfen ein Sieg. Die Fähigkeit eines Frühgeborenen an der Brust zu trinken, entwickelt sich mit der Zeit. Stillerfolge verlaufen daher etappenweise und manchmal ist für die Mütter kein Land in Sicht. Mal trinken Frühgeborene ohne Probleme 40 Gramm, mal nur fünf Gramm Muttermilch an der Brust. Jedes getrunkene Gramm ein weiterer Sieg. Die medizinische Stabilität und Reife des Frühgeborenen sind ein unkalkulierbarer Faktor. Eine Mutter pumpte so regelmäßig und viel, dass sie teils Wundsekret pumpte. Der Kampf der Mütter, ein unsichtbarer Kampf. „Wer bin ich noch als Mutter, wenn ich mein Kind nicht ernähren kann?“ – ist eine Frage, die Mütter sich in den Momenten stellen, wenn die Muttermilch nicht reicht oder nicht mehr wird. Sie verdeutlicht die Bandbreite an Belastungsproben, die Mütter bzw. Eltern in der Zeit des Klinikaufenthaltes und zu Hause bewältigen müssen.

Was brauchen die Erstmütter?

Dadurch, dass jeder Tag für Erstmütter wie eine Lotterie ist, sind folgende Dinge von unschätzbarer Bedeutung: Das Bewusstsein für das Stillen/die Muttermilchernährung eines Frühgeborenen sowohl in der Familie als auch im klinischen und häuslichen Betreuungsrahmen sollte geschärft werden, um Mütter nachhaltig zum Stillen zu motivieren. Der Kampf der Mütter sollte bewusst gemacht werden, um den Müttern nicht das Gefühl zu geben, eine schlechte Mutter zu sein, falls es mit dem Stillen nicht klappen sollte. Für eine optimale Unterstützung und Begleitung, ist die Informationsvermittlung wichtig. Hier kommt die Kommunikation über das Stillen ins Spiel. Dazu gehören Fortbildungen für Gesundheitsfachkräfte, Bildung in Schulen und situationsabhängige und individuelle Informationen über vielfältige analoge und digitale Formate. Letzteres wünschten sich Mütter und ExpertInnen, um beispielsweise Videos in Beratungssituationen integrieren zu können. Wünschenswerte Inhalte waren beispielsweise der Nahrungsaufbau bei einem Frühgeborenen, die Möglichkeiten und Grenzen der Muttermilch, der Milchbildungsprozess bei einer Frühgeburt und warum dieser anders ist, alternative Fütterungsmethoden, Alternativen zum reinen Abpumpen oder die Alltagsorganisation mit Pumpen und Klinikbesuchen. Ebenso würde eine lückenlose Versorgungsstruktur dafür sorgen, dem Informationsbedarf der Frühgeborenen-Eltern in der spezifischen Situation der Frühgeburtlichkeit in der Klinik und zu Hause gerecht zu werden. 

Die Macht der Familie – eine unterschätzte und teils ungenutzte Ressource 

Der Stillprozess bei einer Frühgeburt ist holprig, kräftezehrend und ausdauernd, sodass Aussagen aus der Familie wie „Willst du auch mal was anderes machen, als zu stillen?“ oder „Ihr seid auch gut mit der Flasche groß geworden“ nicht selten sind. Dies verdeutlicht die Bedeutung, die Familie und den Partner/die Partnerin von Tag eins an in den Stillprozess zu integrieren. Denn das soziokulturelle Umfeld und die Familie prägen Erstmütter dahingehend, inwieweit sie sich für das Stillen entscheiden und dieses aufrechterhalten. Mutter und Kind entscheiden, wie lange sie den Stillweg gehen. Dabei sind ein stillförderndes Umfeld, die Motivation und die Begleitung durch den Partner/die Partnerin und die Familie unabdingbare Ressourcen, die genutzt werden sollten.

Fazit

Es gibt ein Sprichwort, das besagt: „Umso steiniger der Weg, umso wertvoller das Ziel“. Nichts trefflicheres beschreibt den Stillprozess eines Frühgeborenen und meine 183 Tage Masterarbeit.

Ich kann nur sagen: Es hat sich gelohnt! Und ich hoffe hiermit einen kleinen Schritt weitergekommen zu sein, die Parallelwelt aufzuzeigen, in der sich Eltern von Frühgeborenen häufig befinden, ein Bewusstsein und Verständnis für den ungesehenen Kampf zu schaffen sowie die Bedeutung einer einheitlichen und situationsabhängigen Stillkommunikation zu bekräftigen.

Vielen Dank an die Autorin Lea Heymel, B.Sc. Ernährungswissenschaften, für den Beitrag zum Thema ihrer Masterthesis zur Frühgeborenenernährung!

 


Quelle: 

Schluter, K., Vamos, S., Wacker, C., & Welter, V. D. E. (2020). A Conceptual Model Map on Health and Nutrition Behavior (CMM(HB/NB)). International Journal of Environmental Research and Public Health, 17 (21), 1 – 12.  https://doi.org/10.3390/ijerph17217829