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Fordert die Ernährungswende! Transformationsansätze lokaler Nachhaltigkeitsinitiativen im Ernährungsbereich

15.01.2024: Welche Transformationsansätze bieten ausgewählte zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen in Gießen zur Verwirklichung der lokalen Ernährungswende im Sinne der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit? Dieser Frage bin ich in meiner Masterarbeit im Fach Ernährungswissenschaften in der ersten Jahreshälfte 2023 nachgegangen. Ein paar Ergebnisse davon möchte ich hier präsentieren.

Die Große Transformation

Kommen wir zunächst einmal zum theoretischen Background der ganzen Geschichte. Die Große Transformation wird seit über zehn Jahren vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) gefordert. Diese Transformation wird als tiefgreifender Wandel des derzeitigen Systems verstanden, der “ko-evolutionär“, also an vielen Stellen zeitgleich, stattfinden. Eine dieser Stellen bzw. Wenden ist die Ernährungswende. Unsere derzeitige Ernährung sowie alle Aspekte, die damit zusammenhängen, sollen nachhaltiger gestaltet werden. Dieser Wende stehen zwei skizzierte Lock-Ins bzw. Hindernisse im Wege. Zum einen der Agrar-Lock-In, welcher die Steigerung von Produktion und Absatz ökologischer Lebensmittel hemmt. Die industrialisierte Wertschöpfung von Lebensmitteln und der Handel auf dem Weltmarkt, führen (vereinfacht gesehen) zu einem Preisdruck in der Lebensmittelwirtschaft, durch den sich eine ökologischere Produktion von Lebensmitteln ohne Förderung nicht rentiert. Neben dieser ökonomischen Barriere existiert der kulturelle-Lock-In der Ernährungswende. Dieser umschreibt das Hindernis des durch die Sozialisation entstandenen Ernährungsverhaltens, welches als Möglichkeit wahrgenommen wird, die eigene Identität auszudrücken. Auf Forderungen von außen, dieses Verhalten zu ändern, wird oft ablehnend reagiert. Eine Verhaltensänderung hin zu einer nachhaltigen Ernährung wird somit erschwert.

Zivilgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsinitiativen wird im Sinne der Großen Transformation die Aufgabe des moralischen Wertewandels zugeschrieben. In und durch diese Initiativen sollen neue Werte und Innovationen geschaffen werden. Dabei gibt es drei Funktionen, die durch Nachhaltigkeitsinitiativen erfüllt werden sollen: die Motor-, Mahner- und Mittler-Funktion.

  • Mahner-Funktion: In einer moralischen Revolution haben zivilgesellschaftliche Organisationen zunächst die Aufgabe, Widerstand gegen das bestehende System zu leisten, wenn dieses nicht ausgewogen ist. Sie weisen auf Missstände, ökologische Gefahren, Ungleichheiten oder sonstige Probleme hin. Das geschieht z. B. durch Protestaktionen, wie sie heutzutage die „Letzte Generation“ durchführt. Die Organisationen zeigen auf, was sie als Menschen bzw. als Zivilgesellschaft wollen und wie alternativ auf der Welt gelebt werden könnte.
  • Mittler-Funktion: Durch zivilgesellschaftliches Engagement werden Werte und das Bewusstsein der Gesellschaft verändert. Die Organisationen schaffen (geschützte) Plattformen und Räume, in denen sich diese neuen Sichtweisen weiterentwickeln können. Sie werden somit auch als Katalysatoren verstanden, die das Bilden neuer Werte und Normen unterstützen bzw. überhaupt erst ermöglichen.
  • Motor-Funktion: Zivilgesellschaftliche Organisationen sollen, wie ein Motor, selbst Dinge ins „Rollen“ bringen. Sie schaffen Strukturen und Lösungen, wodurch Veränderungsprozesse ermöglicht werden. Sie treiben damit den Weg vom Reden ins tatsächliche, konkrete Handeln voran.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass durch zivilgesellschaftliche Organisationen neue Werte und Innovationen erkämpft, gestaltet und ermöglicht werden.

 

Ziel und Vorgehensweise

Mit dem skizzierten Hintergrundwissen habe ich mich gefragt, wie es derzeit um die Ernährungswende durch Nachhaltigkeitsinitiativen in Gießen steht. Dafür habe ich mir das Ziel gesetzt, das Transformationspotential lokaler Nachhaltigkeitsinitiativen im Ernährungsbereich genauer anzuschauen und zu diskutieren, inwiefern diese die Ernährungswende vorantreiben.

Dafür habe ich von Januar bis März 2023 mit fünf Nachhaltigkeitsinitiativen und einem Vertreter der Stadt Gießen leitfadengestützte Expert:inneninterviews durchgeführt und diese anschließend mithilfe einer deduktiv-induktiven inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.

Untersucht wurden folgende Initiativen:

Abbildung 1: Fünf untersuchten zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen aus dem Ernährungsbereich und eine Kurzfassung ihrer jeweiligen Ziele.(Quelle: eigene Darstellung, Langer)

Zur Einschätzung des Transformationspotentials wurden Kriterien des Umweltbundesamts zur Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen verwendet.

 

Erkenntnisse

Es konnte gezeigt werden, dass alle untersuchten Initiativen in gewisser Hinsicht ein Potential zur Transformation des Gießener Ernährungssystems besitzen. Allerdings konnte keine Initiative alle angesetzten Kriterien erfüllen. Demnach besitzen alle einen gewissen Spielraum zur Verbesserung.

Alle Initiativen zeigen durch ihre Aktivitäten einen Einfluss auf den kulturelle-Lock-In der Ernährungswende. Zum Beispiel lassen sich oft Ansätze zur Förderung von suffizientem Verhalten finden. Der Agrar-Lock-in wird von der solidarischen Landwirtschaft Marburg-Gießen, der Garteninitiative Inge und dem Ernährungsrat Gießen beeinträchtigt. Sie ermöglichen durch ihre Aktivitäten alternative Strukturen zur Versorgung mit Lebensmitteln.

Abbildung 2: Einfluss der fünf Initiativen auf die Lock-Ins der Ernährungswende. Grün markiert bedeutet einen hemmenden Einfluss auf den jeweiligen Lock-In. Die hellgrüne Markierung zeigt einen teilweise bestehenden Einfluss. (Quelle: eigene Darstellung, Langer)

Die untersuchten Initiativen verfolgen vor allem die Motor- und Mittler-Funktion der Großen Transformation. Lediglich der Ernährungsrat Gießen erzeugt themenübergreifend Aufmerksamkeit im Sinne der Mahner-Funktion für die Problematiken des derzeitigen Ernährungssystems. Die Initiativen Foodsharing und Bildungsgruppe Weltladen Gießen erfüllen die Mahner-Funktion jeweils nur für ihre spezifischen Themen (Lebensmittelverschwendung und fairer Handel). Um die Ernährungswende in Gießen weiter voranzutreiben, sollten die Nachhaltigkeitsinitiativen stärker öffentlichkeitswirksam im Sinne der Mahner-Funktion auf Probleme und nicht-nachhaltige Praktiken hinweisen und diese einfordern. Nur so werden sie, ihre neuen Werte und Normen sowie die geschaffenen alternativen Praktiken zum nachhaltigen Konsum wahrgenommen und ggf. von der breiten Gesellschaft übernommen.

Abbildung 3: Darstellung, inwieweit die untersuchten fünf Initiativen die Funktionen der Zivilgesellschaft innerhalb der Großen Transformation erfüllen. Grün markiert zeigen erfüllte Funktionen an. Hellgrün wurde verwendet, wenn die Funktion zu bestimmten Teilen erfüllt ist. (Quelle: eigene Darstellung, Langer)

 

Fazit

In Gießen gibt es verschiedene zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen aus dem Ernährungsbereich. Sie verfolgen unterschiedliche Ansätze, um Alternativen zum derzeitigen lokalen Ernährungssystem darzustellen. Dabei besitzen sie theoretisch alle ein gewisses Potential, die Ernährungswende in Gießen voranzubringen. Allerdings konnte gezeigt werden, dass es für eine erfolgreiche Transformation mehr Aufmerksamkeit für die derzeitigen Probleme des Ernährungssystems benötigt.

Also bleibt mir nichts anderes als erneut zu schreiben: „Fordert die Ernährungswende!“


Die Masterarbeit wurde mit dem Nachhaltigkeitspreis für herausragende Qualifikationsarbeiten der Justus-Liebig-Universität (Masterarbeit) für das Jahr 2023 ausgezeichnet.

Wir danken Felix Theodor Langer (M.Sc. Ernährungswissenschaften) für diesen Beitrag und wünschen Ihm für die Zukunft alles Gute!