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Profil und Geschichte

Was ist Theater?

Was ist Theater? Was könnte Theater sein, wenn es nicht nur das sein kann, was es gegenwärtig ist? Und wie lässt sich ein immer anderes Theater denken und erproben? 
 

Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen versteht seine Lehre und Forschung als den Versuch, die Verfasstheit und Funktionen von Theater niemals als gegeben zu akzeptieren und abschließend zu definieren, sondern stets in Frage zu stellen, im Modus der Verhandlung zu halten und mit riskanten und notwendig kontingenten Bauplänen je unterschiedlich zu entwerfen. Theater ist in dieser Versuchsanordnung ein Ort der Auseinandersetzung, an dem immer wieder erneut unsere Praxis und Vorstellung von Theater selbst aufs Spiel gesetzt wird, ein Ort der Erfahrung, an dem immer wieder erneut unsere Art und Weise zu sehen, zu hören, zu empfinden und zu denken herausgefordert wird, mithin ein Ort des Politischen, an dem immer wieder erneut zu klären ist, welche Gemeinschaft die Subjekte auf der Bühne und im Publikum in ihrem Zusammenspiel hervorbringen – kurzum: ein Ort, der sich mit jedem Mal erfindet und zugleich kritisch hinterfragt.

Ein Programm der Öffnung

Um diesem Anspruch an die Produktion, Aufführung und Reflexion von Theater in der Lehre und Forschung gerecht zu werden, setzt das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft auf ein Programm der Öffnung, das für den Bachelor-Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft und die zwei Master-Studiengänge Angewandte Theaterwissenschaft und Choreographie und Performance genauso gilt wie für die Forschungsprojekte des Instituts. Diese Öffnung betrifft zunächst den Theaterbegriff selbst. Theater wird an der Angewandten Theaterwissenschaft seit jeher nicht mit Schauspiel und der Inszenierung von Dramen identifiziert, sondern als entgrenzter Raum von Theater, Tanz und Performance in all deren Spielarten verstanden. In der freien Komposition der vielfältigen Theaterelemente können etwa auch Ton, Licht und Objekte zu gleichberechtigten Partner:innen der Stimmen und Körper der Schauspieler:innen, Tänzer:innen oder Performer:innen werden – oder auch unabhängig vom menschlichen Körper ihren Solo-Auftritt haben. Auch neue Medien wie Video und Internet werden in die Szene des Theaters integriert, und nicht zuletzt werden site specific performances, Installationen, Hörstücke und andere theatrale und performative Formen und Prozesse jenseits der Bühne als Gegenstandsbereiche des Studiums und der Forschung begriffen. Mit der Öffnung des Theaterbegriffs findet zugleich eine zweifache Schwerpunktsetzung in der Auseinandersetzung mit dem Theater statt: zum einen wird besonderes Augenmerk auf die zeitgenössische Aufführungsästhetik und Theoriebildung als Verhandlungsort ebenjenes offenen Theaters gelegt. Wenn dabei auch historische Zusammenhänge hinzugezogen werden, dann stets mit Blick auf deren Bedeutung für Entwicklungen in der Gegenwart. Zum anderen tritt durch den offenen Theaterbegriff umso mehr das Spezifische des Theaters und seine ästhetische Differenz gegenüber dem Leben in den Vordergrund des wissenschaftlichen und künstlerischen Fragens.
 
Zum offenen Theaterbegriff tritt eine Methodologie der Öffnung. Weder ausschließlich akademisch noch praktisch, sondern immer parallel wissenschaftlich und künstlerisch sind Lehre und Forschung an der Angewandten Theaterwissenschaft durch jenen doppelten Zugang zum Theater geprägt, der dem Institut seinen Namen gibt: Der Begriff des Angewandten ist nicht als unmittelbare Anwendung der Wissenschaft auf das Theater zu verstehen, die ein wissenschaftliches Theater oder ein Theater der wissenschaftlichen Theorien hervorbringen würde. Vielmehr wendet sich die Wissenschaft an das Theater und das Theater wendet sich an die Wissenschaft, um durch die Wendung an den anderen ein offenes und differenziertes Verständnis von sich selbst zu gewinnen. Die Wissenschaft kann durch die Hinwendung an das Sinnliche des Theaters ihre eigenen theoretischen und analytischen Fragen und Probleme zum Theater aus einem anderen Blickwinkel sehen, und umgekehrt kann sich das Theater ein anderes Bild von sich selbst machen, wenn es seine Produktion und Aufführung mit den Begriffen der Wissenschaft zu fassen versucht. Wissenschaft und Theater gehen in diesem Prozess der An-Wendung oder Spiegelung niemals in einander auf und führen auch nicht zu einer vollkommenen Ergründung des anderen oder ihrer selbst, im Gegenteil ist das immer unabgeschlossene Resultat eine beständige gegenseitige Problematisierung, die immer neue wissenschaftliche und künstlerische Problemstellungen und Antwortversuche sichtbar macht.
 
Nicht zuletzt betrifft das Programm der Öffnung das Innere der künstlerischen Lehre: Der künstlerische Anteil des Studiums zielt nicht auf die spezialisierte Ausbildung einzelner handwerklicher Berufe wie Regie, Schauspiel oder Lichttechnik ab, sondern auf eine umfassende Vermittlung sämtlicher Arbeitsbereiche des Theaters. Die Studierenden können sich in künstlerischen Projekten etwa zugleich als Performer:innen und Kostümbildner:innen oder als Dramaturg:innen und Sounddesigner:innen ausprobieren oder in Gruppen eine Form der Zusammenarbeit erproben, die von der Zuweisung einzelner Aufgabenbereiche abweichende Arbeitsweisen erfahrbar macht. Sie werden durch Kenntnis der vielen verschiedenen Zugänge zu eigenständigen Theatermacher:innen, die mit Verantwortungsbewusstsein für das Theater in dessen Gesamtheit und für die Zusammenarbeit mit den beteiligten Künstler:innen und Kooperationspartner:innen ausgestattet sind. Diese Offenheit und Breite in der künstlerischen Produktion bildet nicht zuletzt die Voraussetzung für die Suche nach wiederum offenen Theaterformen, die die Grenzen des bisher denkbaren Theaters ausloten.

Ziele

Das Ziel der dreifachen Öffnung – ein offener Theaterbegriff, die An-Wendung von Wissenschaft und Theater und die Nicht-Spezialisierung in der Arbeit am Theater – besteht darin, den Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft eine umfassende und weite Grundlage für ihre eigene wissenschaftliche und/oder künstlerische Praxis zu bieten, die ihnen ermöglicht, mit großer Wachsamkeit und Sensibilität für neue Theaterformen in Kunst und Wissenschaft zu forschen, ihr eigenes Nachdenken über und Handeln im Theater aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren und mit ihren Tätigkeiten am Horizont eines Theaters der Zukunft zu bauen.

Georg Döcker, 2012

Geschichte des Instituts

Gründungszeit

1982 von Andrzej Wirth gegründet, war das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft die erste universitäre Einrichtung im deutschsprachigen Raum, die das Studium der Theaterwissenschaft mit einem Studium der künstlerischen Theaterpraxis verbinden sollte. Unter Wirth und der Mitarbeit von Hans-Thies Lehmann entwickelte sich das Institut auf der einen Seite schnell zu einem Gegenpol zu etablierten Schulen der darstellenden Künste, die Theater ausschließlich als Schauspiel auf der Grundlage von Dramen verstanden und ihre Studierenden für einen etablierten Stadttheatermarkt ausbildeten. Auf der anderen Seite bildete es auch einen Gegenpol zu anderen Theaterwissenschaftsinstituten, die der Praxis keinen Raum gaben und Theaterwissenschaft vor allem als Theaterhistoriografie verstanden. Auf der neu eingerichteten Probebühne suchten Wirth und Gastprofessor:innen wie Heiner Müller, George Tabori, Emma Lewis Thomas oder Robert Wilson gemeinsam mit den Studierenden nach neuen Theaterformen, die das Monopol des deutschsprachigen Stadttheaters auf das Machen und die Definition von Theater infrage stellten. Von Wirth und seiner Wahl der Gastprofessor:innen geprägt, beschäftigten sich einige frühe Arbeiten der Studierenden etwa mit der Tradition von Brechts Lehrstück und minimalistischen Tendenzen aus der bildenden Kunst. Lehmann arbeitete parallel an einer Theorie ebenjener theatralen Ansätze, die sich nicht mehr mit den bis dahin bekannten Theorien der Darstellung auf Basis von Drama und Schauspiel erfassen ließen. Heute sind diese Theaterformen durch Lehmanns Begriffsbildung als postdramatisches Theater bekannt.

Die 1990er- und 2000er-Jahre

In den 90er-Jahren übernahmen die Theaterwissenschaftlerin Helga Finter und der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels die wissenschaftliche und künstlerische Leitung des Instituts. Goebbels erweiterte die künstlerische Lehre hin zu neuen medialen Darstellungsformen und Musik-, Klang- und Lichtinszenierungen. Mit der Einrichtung von Ton- und Videostudios ließ er die nötige Ausstattung für die eigenständige Arbeit mit den neuen Medien schaffen. In der Wissenschaft setzte Finter neue Schwerpunkte, indem sie die Theatralität der Theater- und Literaturexperimente der historischen Avantgarden, insbesondere von Antonin Artaud, vermittelte. Auch die Arbeiten von Wilson und anderen zeitgenössischen Regisseur:innen und Künstler:innen wie Klaus Michael Grüber zählten zu jenen Untersuchungsgegenständen, die Finter zu einer Theorie des Theaters als Verhandlungsraum der Subjektivität in Absetzung zu einer sich immer weiter formierenden Gesellschaft des Spektakels führten. Die Tradition der Gastprofessuren wurde mit Künstler:innen sowie Theoretiker:innen wie etwa Marina Abramović, Richard Schechner, Patrice Pavis, Josette Feral, Samuel Weber, Georg Seeßlen, Mathilde Monnier, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Rabih Mroué, Tino Sehgal oder Claudia Bosse bis heute fortgesetzt und bildet immer noch einen entscheidenden Einfluss für das Institut.

2008 schließlich erfolgte mit der Einführung des Master-Studiengangs Choreografie und Performance und einer Professur für Tanzwissenschaft mit dem Schwerpunkt Choreografie und Performance eine weitere Öffnung auf das Feld des zeitgenössischen Tanzes und der Choreografie. Es wurden damit jene ersten Impulse zur Beschäftigung mit der Ästhetik des Tanzes fortgeführt und strukturell verankert, die schon in den 90er-Jahren von Gabriele Brandstetters Tätigkeit als kurzzeitiger Professorin am Institut ausgingen. Der MA-Studiengang Choreografie und Performance wird in Kooperation mit der Abteilung für zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main angeboten und wurde in den ersten Jahren seines Bestehens von Gerald Siegmund aufgebaut. Wie die bestehenden Studiengänge des Bachelors und des Masters Angewandte Theaterwissenschaft ermöglicht das MA-Studium Choreografie und Performance eine zugleich wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung, allerdings insbesondere mit dem Fokus auf den Körper, seine Bewegung, aber auch seine Politik und Ökonomie.

Das Institut heute

Heute sind vier Professuren am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft angesiedelt, wovon drei permanent besetzt sind: Aktuell hat Xavier Le Roy die künstlerische Professur inne, Gerald Siegmund hält seit 2011 die Professur für Theaterwissenschaft und Bojana Kunst hat 2012 die Professur für Tanzwissenschaft angenommen. Die vierte Professur ist die künstlerische Gastprofessur, die jedes Semester mit wechselnden Künstler:innen besetzt wird. Bildeten in den 80er und 90er-Jahren insbesondere die konventionellen und limitierenden Theaterpraktiken und -vorstellungen des deutschsprachigen Stadttheatersystems den Kontext und negativen Bezugspunkt der wissenschaftlichen und künstlerischen Lehre und Forschung am Institut, stehen heute, angesichts des Bedeutungsverlusts der Stadttheater und großer Veränderungen in der gesamten Theaterlandschaft, andere Verhältnisse im Zentrum der Debatten: die Ambivalenzen einer freien Szene, deren Internationalisierung und deren Arbeitsbedingungen aufgrund verschärfter ökonomischer Zwänge neue Herausforderungen und Probleme für die Produktion, aber auch für die Ästhetik des Theaters der Gegenwart aufwerfen.

Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gewinnt sein produktives Eigenleben seit seinem Bestehen nicht zuletzt durch ein hohes Maß an Eigeninitiative seiner Studierenden. Seit vielen Jahren richten die Studierenden in vollkommener Eigenregie mehrere Festivals aus: die Theatermaschine, eine Präsentationsplattform für die eigenen künstlerischen Arbeiten der Studierenden; den Diskurs, der seit 1984 organisiert wird und heute ein anerkanntes internationales Festival der performativen Künste ist, zu dem jedes Jahr Künstlerinnen und Künstler mit ihren Arbeiten zu Diskurs und Diskussion eingeladen werden; und schließlich das noch junge Instant-Festival, ein Format zur Förderung des Austauschs mit dem Studiengang für Szenische Künste der Universität Hildesheim, das wechselseitig in Gießen und Hildesheim stattfindet. Alle Festivals, aber auch die Präsentation von Szenischen Projekten und Praktischen Kursen werden begleitet von Kritikgesprächen, die einen institutsinternen, aber auch nach außen offenen kritischen Austausch über die eigene Praxis bilden und wesentlich die Diskussionskultur des Instituts prägen.
Seit 2020 betreibt das Institut für ATW sein „Theaterlabor / Performance Lab“, eine hochmoderne Probebühne, die u. a. mit einer Spanndrahtseil-Zwischendecke ausgestattet ist, und dem künstlerischen Experiment ganz neue Räume eröffnet.

Die Absolvent:innen des Instituts

Absolvent:innen der Angewandten Theaterwissenschaft arbeiten in allen Feldern von Tanz, Theater und Performance, in der bildenden Kunst, den Medien und der Wissenschaft. Seit nunmehr 30 Jahren mischen sie gleichermaßen das Stadttheater, die freie Szene und die Wissenschaft im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus auf. Réne Pollesch, Gob Squad, She She Pop, Rimini Protokoll, Showcase Beat Le Mot, Monster Truck, Auftrag : Lorey und viele andere haben die Theaterlandschaft mit nicht-hierarchischen, oft kollektiven Arbeitsweisen und einer je singulären Ästhetik nachhaltig verändert; Miriam Dreysse, Jens Roselt, Annemarie Matzke, André Eiermann oder Jörn Etzold, um nur einige wenige zu nennen, formulieren in der Wissenschaft an vielen Instituten im deutschsprachigen Raum neue Analysezugänge und Theorien für das Theater der Gegenwart.

Georg Döcker, 2012