August Wilhelm Schlegel, Rezension, 1797
August Wilhelm Schlegel: In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Jena und Leipzig. 4. Band, Numero 351, Sp. 305-312, vom 4. November 1797.
-- Textgrundlage: Oscar Fambach: Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik (1750-1850). Band IV: Das große Jahrzehnt (1796-1805) in der Kritik seiner Zeit. Berlin 1958, 172-178.
-- Digitale Fassung: Thomas Gloning, VI/2002; Silbentrennung aufgehoben.
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[305] 1) LEIPZIG, in der Höferschen Buchh.: Aesthetische
Beurtheilung des
Klopstockischen Messias. Von Johann Christian August Grohmann,
Lehrer der Philosophie
zu Wittenberg. Eine von der Amsterdammer Akademie der Dichtkunst
und
schönen Wissenschaften gekrönte Preisschrift. 1796.
VII u. 328 S. gr.8.
2) BRESLAU, b. Korn: Der Messias von Klopstock, ästhetisch
beurtheilt und {5}
verglichen mit der Iliade, der Aeneide und dem verlornen Paradiese.
Von C. F. Benkowitz.
Eine Preisschrift, die von der Amsterdammer Gesellschaft zur Beförderung
der schönen Künste und Wissenschaften eine doppelte
Medaille erhalten hat.
1797. 216 S. gr.8.
Auf wenigen Blättern mit Klarheit, Bestimmtheit und Ordnung
vorgetragen, {10}
würde der Gehalt der ersten von obigen Schriften immer noch
ziemlich unbedeutend
erscheinen: aber man verliert ihn gänzlich unter der Verworrenheit,
der declamatorischen
Schwerfälligkeit, dem Schwalle nichtssagender Redensarten,
den ermüdenden
Wiederholungen, wovon sich der Vf. auch nicht einen Augenblick
losreißen
kann. Er hat schon [!Ed] schreiben wollen, und dies ist in einem
seltnen Grade misglückt. {15}
Hätte er doch fürs erste nur sich nothdürftig richtig
ausdrücken gelernt, so wäre es
ihm nicht eingefallen, die Sprache mit barbarischen Wörtern
wie Berücksichtigung, sich
einverständigen, unzuumfassend, überwesentlich u.
dgl. bereichern zu wollen. Wer
Wortfügungen wie folgende macht: S. 224. "des würdigen
Vernunftbegriffs ungerechnet;"
S. 112. "Mit der Weisheit der Alten, und der allein
Würdigung der Kunst, nur Schönheit {20}
,, und schöne Formen zu dichten -- als um welche Würdigung
die Künstler, besonders
,, die Maler den Geist der Alten erflehen sollten usw.";
der sollte billig ein fleißiger
Schüler der Grammatik werden, ehe er irgend etwas zu lehren
unternähme. Wie der
Geschmack des Vf. sich in der Ueberladung und den leeren Anmaaßungen
seiner
Prosa (doch eine solche Schreiberey verdient eigentlich diesen
Namen nicht) offenbart, {25}
so besteht seine Theorie der Kunst in gedankenlos nachgesprochnen
Formeln
aus Kants Kritik der Urtheilskraft. S. 16. "Daß so
für die ästhetische Schönheit des
,, Gedichts die schönste Form, und für die thätigen
Kräfte des reflectirenden Urtheilens
,, in dem freyesten, mannichfaltigsten Spiele [306] dieser Dichtungen
die gefälligste
,, Zweckmäßigkeit entspringet. Zu diesen zweckmäßigen
Formen der Dichtung usw." {30}
S. 17. "Satan suchet die größten extensiven
Bilder auf, unter welchen er, wie er sagt,
,, Jesum zu finden glaubte, er fängt mit der weitesten Auseinandersetzung
derselben
,, an, und malet sie zum größten Umfange aus;
-- diesen stellt er nun die kleinsten
,, extensiven Bilder entgegen, die er eben so zur größten
Kleinheit ausmalet, die aber in
,, dieser Entgegensetzung, da die Vernunft zum Gefühl des
Erhabenen keine extensiv {35}
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,, große Vorstellung, kein extensiv großes
Bild braucht, wohl aber dieses die Einbildungskraft
,, zum theoretisch Erhabenen, wo die Vernunft eben in der
kleinsten Extension
,, die größte Intension finden kann, zur
höchsten praktischen Erhabenheit für den Messias
,, werden." S. 135. "Es leuchtet daraus von selbst hervor,
daß der zweyte Theil des
,, Messias einen gewissen gleichen Gang, eine gewisse
gleiche Anordnung und Stellung in {5}
,, seinen einzelnen Theilen mit dem ersten haben mußte;
denn in Rücksicht des Stoffs
,, verhielt sich das zu dichtende des erhöhten Messias
eben so zu ihm, wie das zu dichtende
,, des erniedrigten, hier daß wir den Endzweck
seiner Erniedrigung, dort daß wir die
,, Erfüllung, die Erreichung dieses Endzwecks, unter
welcher die Erhöhung des Messias
,, besteht, sahen, -- und wie der Endzweck dort unter gewissen
Bildern, unter gewissen {10}
,, Versinnlichungen, in einer gewissen Form gezeigt wurde,
daß diese Form, diese Bilder,
,, im zweyten Theile, um hier die Erreichung jenes Endzwecks
darzustellen, ebenfalls
,, auch bleiben mußten, oder die Erreichung dieses Endzwecks
unter eben dieser Form,
,, unter diesen bildlichen Vorstellungen mußte
dargestellt werden." Doch damit es
nicht scheine, als ob wir die Schrift des Hn. G. (um uns nach
seiner Weise {15}
auszudrücken) bloß nach dem unästhetischen ihrer
ästhetischen Form, nach ihrer höchsten
Zweckwidrigkeit für das zweckmäßige Spiel der
reflectirenden Urtheilskraft
verwürfen; so müssen wir schon einige seiner Urtheile
und Behauptungen in der Kürze
prüfen, so wenig ihrer Aufstellung eine besonnene Prüfung
vorangegangen seyn
kann. Gleich anfangs verdunkelt und verkleidet der Vf. einige
Seiten hindurch die {20}
schlichten und gar nicht neuen Sätze: daß die Natur
theils durch ihre Schönheit dem
Menschen gefallen, theils durch sittliche Beziehungen ihn rühren
kann, und daß den
Alten für jene Seite derselben, den Neuern für diese
mehr Empfänglichkeit eigen ist.
Allerdings findet man bey den Neuern eine empfindsame Ansicht
der leblosen und
organischen Natur, wovon die Alten nichts wußten. Sobald
[307] man aber die {25}
Menschheit mit in den Begriff der Natur hineinzieht, (wie der
Vf. offenbar thut, wenn
er sagt: die ganze griechische Kunst ist Zeuge von jener Abbildung
der Natur)
so wird die letzte Hälfte der obigen Behauptung unwahr:
die bildende Kunst und
noch mehr die Poesie der Griechen beweist unwidersprechlich die
vollendetste
Ausbildung ihres Gefühls für die sittliche Würde
der Menschennatur. Mithin fällt der {30}
ganze Gegensatz weg, wodurch der Vf. wie durch einen Sturm plötzlich
vom
Herkules, der Venus, dem Endymion, zum Christusbilde, zum
höchsten Vernunft-Ideal hin
verschlagen wird; und von der Voraussetzung, dieses letzte könne
nur die neuere
Kunst, und zwar nur in der Person Christi aufstellen, finden wir
nicht den Schatten
eines Beweises. Auf den Zweifel: ob nicht grade die Vereinigung
der Gottheit mit {35}
der Menschheit im Messias diese in der Darstellung gänzlich
auslöschen muß, weil
sie nur von jener getragen zu werden scheint, und weil das, was
freye Selbstthätigkeit
einer endlichen Kraft den höchsten Werth hat, für eine
unendliche Macht und
Vollkommenheit gar nichts ist? hat er sich mit keinem Worte eingelassen.
Da Hr. G. so
freygebig mit Berücksichtigungen der alten Kunst ist,
und immer auf den Laokoon {40}
zurückkommt, welcher im geringsten nicht hieher gehört,
so konnte ihm die
griechische Poesie weit schicklichere Vergleichungen darbieten.
Am Prometheus des
Aeschylus würde er wenigstens nicht wie am Laokoon, "den
objectiven moralischen
Endzweck, zu dessen Erreichung die Schmerzen übernommen worden,"
(den ja der
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bildende Künstler, auch wo er vorhanden ist, nicht ausdrücken
kann) noch auch "die
freye Causalität und Independenz des Leidenden" vermissen.
Er würde noch sonst
viel Gelegenheit finden, über seine Behauptungen stutzig
zu werden, sobald er
anfinge jene unerreichbar große Darstellung zu begreifen.
Abbadona soll (S. 221.)
,, der gesammte Menschheitscharakter, der alles umfassende
Charakter des Menschengeschlechts, {5}
,, und zwar von seiner gefallnen, gesunknen Seite und Würde
in einem Ideale
,, zusammengefaßt seyn, welches (S. 224.) uns selbst in
unserer eigensten Persönlichkeit,
,, die als Menschen jedem zukömmt, vorstellt." Wie?
eine beständige Zerknirschung
wäre der natürliche Zustand des sich selbst überlaßnen
gesunden Menschen? Hat es
nicht einer Offenbarung bedurft, um die Menschen zur Anerkennung
einer ursprünglichen {10}
Verderbniß zu bringen? Wenn Reue, wie ein englischer Dichter
sehr treffend
sagt, die Tugend schwacher Seelen ist: in welchen Abgrund von
Schwäche läßt uns
denn beym Abbadona eine endlose, unthätige Reue hinabschaun?
Und doch erstaunt
der Vf. "vor diesem Ideal der Erhabenheit, vor der Fülle
der Ausdehnung in diesem
Charakter." Auf eine klägliche Art verstrickt er sich
S. 222. in eine Beschreibung des {15}
Idealisirens, nach welcher es etwas bloß negatives seyn
würde, und S. 240. will er gar
die Individualität des Dichters, bloß rein ohne
alle Persönlichkeit dargestellt wissen,
damit sie "allgemein jeden bezeichnendes Ideal" werde.
Die entlehnten [308]
Gedanken (S. 200 u.f.) über das Handeln des Teufels nach
einem bösen Princip, und [!Ed]
sehr voreilig auf die Poesie angewandt. Folgt daraus, daß
etwas sich denken läßt, {20}
und wissenschaftlich genommen, so gedacht werden muß, wenn
man es sich
überhaupt denken soll, es werde auch in der Darstellung anschauliche
Wahrheit haben?
Folgt daraus, es dürfe poetisch dargestellt werden? Ein erdichtetes
Wesen, das,
ursprünglich frey, nicht nur ohne Eigennutz, sondern zu seinem
größten Schaden, das
Böse aus Lust daran unaufhörlich verrichtet, wird uns
entweder eine bloße Schimäre {25}
oder auf die widrigste Art wahnwitzig scheinen. Sehr ungerecht
ist daher (S. 203 u.f.)
der Tadel gegen Milton darüber, daß er seinen Teufeln
noch menschliche Triebe
gelassen, und sie nicht von allem Guten entblößt hat.
Eben dadurch, daß Satan im
verlornen Paradiese aus Triebfedern, die er sich als edel vorzuspiegeln
sucht, und manchmal
mit innerm Widerstreben, das Böse ausführt, wird Heroismus
in ihm möglich: {30}
denn die Gewalt des Willens bewährt sich nur im Streit mit
den Neigungen. Eben so
unverständig wird Klopstock wegen der Schilderung der Leiden
in Gethsemane
getadelt, als wäre dabey die Würde des Messias verletzt:
da diese Leiden in großer
Seelenangst bestanden, wie sollten sie anders als durch die Symptome
derselben
geschildert werden? Doch der Kritiker hat es hier mehr mit der
Offenbarung zu thun {35}
als mit dem Dichter. S. 53. werden die Maler sehr hart angelassen,
weil sie von den
Leiden Jesu nur das Sichtbare malen können. Die Kenntnisse
des Vf. von der bildenden
Kunst, mit der er viel um sich wirft, kann man daraus ungefähr
beurtheilen, daß
er S. 53. sagt: "der alte, weise griechische Künstler
gab seiner Statur, die in dem
,, höchsten Schmerze dargestellt wurde, einen Schleyer über
das Gesicht, um den {40}
,, widrigen Anblick des Schmerzensausdrucks zu verbergen."
Schwerlich hat je ein
griechischer Künstler einen so Ungeheuern Fehlgriff gethan.
S. 188. heißt "der dogmatische
Gott das widrigste Gegenstück der Kunst," und S. 302.
gehört "Klopstock
unter die Kunstwerke."
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Bey der Weitläuftigkeit dieses Buchs ist doch die darin gegebene
analytische Zergliederung
des Gedichtes äußerst unvollständig. Der Vf. verbreitet
sich unverhältnißmäßig
über einzelne Stellen, indem er sie in poetischer Prosa wiederholt,
und über die
wichtigsten Punkte, die Anlage und Organisation des Ganzen, über
die eigentliche
Handlung darin, dann über die Kunst der Ausführung in
Sprach- und Versbau, sagt {5}
er wenig oder gar nichts. Jenes mag wohl von einer Eigenheit seiner
Kritik herkommen,
die er in dem ersten der angehängten Briefe an einen Freund,
so schildert:
"sie glaube nicht aufhören zu können, wenn sie
einmal angefangen." Die treffenden
Bemerkungen Schubarts über Klopstocks Messias werden in eben
diesem Anhange
sehr unbefriedigend widerlegt. Am Ende fragt der Vf.: "Karl,
ich habe eine {10}
,, Beurtheilung von meinem Klopstock gemacht; ist das nicht die
dritte Sünde, die ich
,, nun dem heiligen [309] Schutzgeist der Kunst abzubeten
habe?" Die wievielste
können wir nicht sagen; aber eine Sünde gewiß!
Die zweyte Schrift ist in einem ganz entgegengesetzten Tone abgefaßt:
man muß
es rühmen, daß der Vf. es dem Leser so leicht gemacht,
ihre ungemeine Schlechtigkeit {15}
einzusehen. Die Schreibart ist so wenig schwülstig, daß
sie vielmehr mit Zuversicht
auf den Preis der Plattheit Anspruch machen könnte, wenn
ein solcher ausgetheilt
würde. Statt der chaotischen Verwirrung, welche dort herrscht,
ist hier alles auf das
ordentlichste eingetheilt und sogar numerirt; die Vortrefflichkeiten
des Gedichts
werden einem recht Stück vor Stück zugezählt. Rec.
erinnert sich, einmal in einer {20}
Gemäldegallerie einen Dilettanten gesehen zu haben, der einen
kleinen Maaßstab
aus der Tasche zog, und mit nichts anderm beschäftigt war,
als denselben sorgfältig
an alle Bilder anzulegen, und ihre Höhe und Breite in seine
Schreibtafel einzuzeichnen:
dies ist ein gar nicht übertriebnes Gleichniß von der
Kunstrichterey des Hn. B.
Er beruft sich zwar auf die vom Aristoteles und Horaz für
das Heldengedicht {25}
gegebenen Regeln; aber er hat sie sämmtlich auf die Foderung
der Quantität reducirt,
und wenn er eine Poetik aufstellen sollte, so würde ihr oberster
Grundsatz vermuthlich
lauten: mehr hilft mehr. Auf diese Art vergleicht er denn den
Messias mit der
Ilias, der Aeneis und dem verlornen Paradiese, nach dem Grundstoffe
oder der Fabel,
der Handlung, den Charakteren, der Sprache, endlich dem Schauplatze
und dem {30}
Sylbenmaaße. Der Grundstoff der Ilias ist nach seiner Meynung
der Zorn des Achilles,
der Aeneis die Gründung des römischen Staats, des Messias
die Erlösung der
Menschen. S. 17. "Es leuchtet also hervor, daß sich
das neuere Heldengedicht von den
,, beiden alten vorzüglich in zwey Punkten unterscheidet:
in der Allgemeinheit, und
,, in der Dauer ihrer Folgen." (Der Folgen des Heldengedichts?)
"Diese betreffen {35}
,, nur einzelne Nationen auf der Erde, jenes erstreckt sich auf
das ganze
,, Menschengeschlecht; dieser Wirkungen sind endlich, jenes unendlich.
Die Größe einer
,, Handlung aber läßt sich vorzüglich nach der
Anzahl ihrer Theilnehmer und dem
,, Umfange ihrer Wirkungen bestimmen. Da nun das Ganze größer
ist als einzelne
,, Theile, und die Ewigkeit größer als die Zeit, so
folgt natürlich daraus, daß der {40}
,, Grundstoff des neuern Heldengedichts größer sey,
als der Grundstoff der alten."
Quod erat demonstranduml Das verlorne Paradies macht es
dem Vf. schon etwas
saurer; denn die Folgen des Sündenfalles sind ebenfalls allgemein
und unendlich. Er
greift es also von einer andern Seite an, und vergleicht S. 19
"die Moralität der
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Hauptbegebenheiten." Die Moralität einer Begebenheit:
vortrefflich! Hiernächst
untersucht er, ob sich überhaupt noch ein größerer
Stoff zu einem Heldengedicht
denken lasse? "Größer wäre der Plan im Messias,
wenn darin die Versöhnung
,, mehrerer Welten mit Gott besungen würde; noch größer
wäre er, wenn alle Welten
,, in der ganzen Schöpfung durch den Messias erlößt
würden; und am allergrößten, {5}
,, wenn die Hölle sammt ihren Teufeln [310] in der Erlösung
begriffen wären."
Schade, daß dies nicht der Fall gewesen ist! Hierauf vergleicht
der Vf. einzelne
Handlungen, Hauptbegebenheiten in den übrigen Gedichten mit
Nebenhandlungen im
Messias, z.B. den Besuch der Thetis beym Jupiter mit einer Gesandtschaft
Gabriels.
S. 49. "In der Iliade sind die Theilnehmer Zeus, Thetis,
und etwa die von fern {10}
,, lauschende Here. Im Messias sind es: Jehova, Gabriel, Eloa,
die Engel und die
,, verstorbenen seligen Menschen. Da von der Größe
dieser Wesen erst im folgenden
,, Artikel gehandelt wird, so kann ich hier nur nach der Anzahl
der theilnehmenden
,, Personen entscheiden. Diese ist im Messias unendlich größer,
wie man aus dem
,, Dichter, dessen Wort hier allein gilt, am besten sehen kann.
Ges. V, 13. sagt Eloa {15}
,, von den Bewohnern des Himmels:
,, Sollt' ich euch überzählen, ich müßte Jahrhunderte zählen."
S. 72. u.f. wird der Held der Ilias und Aeneis mit dem Helden
des Klopstockischen
Gedichts verglichen. Was kann Achilles? Er kann Bäume aus
der Erde reißen, Steine
schleudern usw. "Was ist dies gegen das Verscheuchen des
mächtigsten Höllenfürsten {20}
,, durch einen geheimen Wink des Willens? Das erste kann auch
ein Elephant,
,, das letzte ist bloß ein Werk der göttichen [!Ed]
Allmacht." Man sieht hieraus klar die
Ueberlegenheit des Messias, ob er gleich "keine kriegerische
Talente hat." Eben so
belustigend wird Jupiter beym Homer mit Klopstocks Jehova, und
Neptun mit
Magog verglichen. S. 120. Ares schreyt beym Homer wie zehntausend
Männer. {25}
"Klopstock, um ein großes Geräusch auszudrücken,
nimmt eine erhabnere Vorstellung,
,, er redet von zehntausend Donnern. Man denke, welch ein Unterschied
es
,, sey, zehntausend Donner, und zehntausend schreyende Krieger.
Ein Donner ist
,, stärker, wie das Brüllen von allen Kriegern zusammengenommen."
Man könnte
Hn. B. auffodern, den letzten Satz durch angestellte Experimente
erst noch bündiger {30}
zu beweisen. Auch sind die Donner ja nicht alle von gleichem Kaliber,
und es fragt
sich, ob die, von welchen Eloa Mess. V, 4. spricht, rechte
Vierundzwanzigpfünder
gewesen. Freylich ist es mit den Donnern nicht wie mit den Albernheiten:
von diesen
kann oft Eine für zehntausend gelten, und die angeführte
ist grade von der Art.
Brauchen wir nach solchen Beyspielen noch ausdrücklich zu
erinnern, daß durch die {35}
ganze Abhandlung die gröbste Verwechselung der Materie mit
der Form Statt findet,
und daß Hr. B. auch nicht die entfernteste Ahndung
davon hat, was schön, was
Poesie, was ein Kunstwerk sey? Seine Schlußart ist ungefähr
folgende: der Kolossus
zu Rhodus war die schönste unter allen griechischen Statüen;
denn er hielt eines
seiner Beine an der einen, das andre an der andern Seite der Einfahrt
in den Hafen, {40}
und dies hätte selbst der olympische Jupiter nicht gekonnt,
wenn man ihm die Beine
noch so weit aus einander gespreizt hätte. Noch schöner
würde eine Statüe seyn,
die den einen Fuß etwa in Europa, den andern in Afrika hätte,
am allerschönsten aber
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eine, die [311] von der Erde in den Mond hinüberschritte.
In der letzten Hälfte des
Buchs scheint es, als wolle sich Hr. B. mehr mit dem Poetischen
beschäftigen; denn
er redet von der Sprache (S. 125. "derjenigen Diction,
oder dem Ausdrucke von
,, Worten, in welchem die Gedanken des Gedichts vorgetragen sind")
und dem
Sylbenmaaße. Allein unter seinen Händen werden auch
Wörter und Töne zu Sachen, {5}
die er zählt, mißt und wägt, und so bringt er
heraus, daß der Messias ganze Schefiel,
ja ganze Heuwagen voll Schönheiten vor den übrigen Heldengedichten
voraus hat.
Hr. B. hat selbst das seiner ganzen Beurtheilung zum Grunde
liegende Geheimniß
sehr naiv verrathen. Er sagt S. 63. von einer Stelle der Ilias
und der Geschichte des
Laokoon beym Virgil: "Man beraube diese Scenen ihrer schönen
Poesie, und es {10}
,, bleiben nichts als Feenmärchen übrig." Ja so!
man beraube die Ilias, die Aeneis, das
verlorne Paradies, und den Messias und dann vergleiche man sie
mit einander. Da
hier nun eigentlich von der schönen Poesie die Rede ist,
und Hr. B. uns über diese
schlechterdings nichts zu sagen haben kann, so nehmen wir Abschied
von ihm, und
entschuldigen uns bey unsern Lesern wegen der gründlichen
Darlegung seiner fast {15}
beyspiellosen Unwissenheit und Plattheit mit unsrer Ehrerbietung
vor einer doppelten
Medaille.
Man sieht, daß, wenn auch die Preise vertheilt wurden, die
Lorbeern noch
ungepflückt geblieben sind. Es wäre in der That sehr
zu wünschen, daß ein der Sache
gewachsener Kenner eine ausführliche Beurtheilung des Messias
unternähme. Die {20}
heftigen, aber heilsamen Erschütterungen, welche die erste
Erscheinung des Messias
für und wider ihn hervorgebracht hat, liegen ein Menschenalter
hinter uns; auch die
schreyende, schiefe und einseitige Bewunderung gewisser kindischer
Anstauner des
großen Mannes und seines Werks ist verschollen; wir stehen
allmählig entfernt genug
von dem Gegenstande, um einen freyen Standpunkt der Betrachtung
zu wählen. Es {25}
ließen sich dabey die anziehendsten Untersuchungen zur Sprache
bringen: z.B. über
das Verhältniß des Christenthums zur schönen Kunst,
wo denn hauptsächlich der
Zweifel zu heben wäre: Ob jenes nicht von dem sinnlichen
Menschen eine
Verläugnung seiner selbst fodert, welche der lebendigen,
unbeschränkt freyen Bewegung,
worein der Dichter ihn zu versetzen sucht, durchaus widerspricht?
Ob also nicht ein {30}
Gedicht, dem überall die Voraussetzung unsrer ursprünglichen
Sündlichkeit, und der
Unzulänglichkeit unsrer eignen Kraft, um der ewigen Verdammniß
zu entgehen, zum
Grunde liegt, durch seinen Inhalt dem Eindruck der Form entgegenarbeitet?
Ob
insbesondre ein Geheimniß der Offenbarung Gegenstand
der Darstellung werden kann,
da der Dichter entweder das Wesen der Sache gar nicht berühren
darf, oder, wenn er {35}
versucht den Schleyer des Unbegreiflichen wegzuziehen, [312] sich
in tausend
Widersprüchen und Ungereimtheiten verstricken muß?
Ferner: ob das Urchristenthum,
oder der Katholicismus, oder der Protestantismus, einer dichterischen
Behandlung
fähiger sey? Ob in dem letzten nicht ein Streben nach Unsinnlichkeit
der Gottes-Verehrung
liegt, das, um consequent zu seyn, alle christlichen Gedichte,
Gemälde {40}
u.s.w. verbieten sollte? Bey den katholischen Vorstellungsarten
würde bestimmt
werden müssen, welchen Werth das Ideal der Madonna,
die reinste und schönste
Hervorbringung der neuern Malerey, für die Poesie haben könne?
Dante würde
einigermaßen einen Begriff davon geben, da uns Klopstock
in der Maria fast nur die
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mater dolorosa zeigt. Ueberhaupt würden Vergleichungen
dieser beiden Dichter, der
festen, bestimmten Umrisse des Italieners, der bald der Michelangelo,
bald der
Raphael der Poesie ist, mit der heiligen, entkörperten, schwebenden
Darstellung des
Deutschen eben deswegen vorzüglich belehrend seyn, weil der
Sänger des Messias
die göttliche Komödie gar nicht gekannt zu haben scheint;
da man hingegen oft {5}
veranlaßt wird zu wünschen, er möchte Young und
Milton nicht gekannt, oder
weniger geliebt haben. -- Wenn man unbefangen zu den Urkunden
des Christentums
zurück geht, so bietet sich der Gedanke zu einem Gedicht
vom Leben und den Leiden
des Heilandes dar, das, nach Art des homerischen Epos organisirt,
der volksmäßigen
Einfalt des Evangeliums treu bliebe: aber zu der Zeit, da Klopstock
zu dichten anfing, {10}
konnte der Entwurf zu so etwas weder gemacht noch ausgeführt
werden; es
hätte für gleich große Entweihung der Religion
und der Poesie gegolten. -- Eine sehr
schwierige Frage würde es endlich seyn, zu welcher Dichtart
Klopstocks Messias zu
rechnen ist? Ist er eine Epopöe im ursprünglichen Sinne,
oder in der gänzlich
verschiednen Bedeutung des Worts bey den Neueren? Oder hat man
ihn etwa als ein {15}
Lehrgedicht über die Versöhnung zu betrachten? Oder
ist die Begeisterung, welche
das Ganze beseelt, ihrer Art nach nicht plastisch, sondern lyrisch,
das scheinbar
pragmatische Werk also ein großer majestätischer Hymnus
auf den Heiland? Wie auch
alle diese Untersuchungen ausfallen, wie oft man auch genöthigt
seyn möchte,
einzugestehn: {20}
All' alta fantasia qui mancò possa;
Klopstock könnte auf keine Art dabey verlieren. An einer
unausführbaren Aufgabe
hat sich nicht selten eine selbstständige Kraft am glänzendsten
bewährt. Was der
Messias für uns Deutsche gewirkt hat und noch wirkt, bleibt
ewig in seinem Werthe.
Der männliche, vaterländisch gesinnte Geist seines Urhebers
hat die Bande der {25}
Convention und des pedantischen Vorurtheils, welche den Deutschen
Genius gefesselt
hielten, zerrissen; er schuf uns eine Dichtersprache; die deutsche
Poesie ehrt in ihm.
ihren Vater.
tg, 6/2002