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Offizielle Stellungnahme der JLU

Rehabilitation der Opfer - Offizielle Stellungnahme der Justus-Liebig-Universität Gießen

Universitäten während der nationalsozialistischen Herrschaft

 

Am 30. Januar 1933 begann mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler das finsterste Kapitel der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten räumten in kürzester Zeit alles beiseite, was der Errichtung des von ihnen propagierten völkischen Führerstaats im Wege stand. Während auf den Straßen die Schlägerbanden ihr Unwesen trieben und willkürliche Massenverhaftungen die Gegner des Nationalsozialismus in Angst und Schrecken versetzten, brachten mehr oder weniger „legale“ Maßnahmen von oben den Weimarer Rechts- und Verfassungsstaat zum Einsturz.

So setzte die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ die Grundrechte außer Kraft, das „Ermächtigungsgesetz“ hob das parlamentarische System auf. Die Gleichschaltungsgesetze beraubten Länder und Kommunen jeder Eigenständigkeit. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 4. April 1933 entledigten sich die neuen Machthaber der politisch und rassisch nicht genehmen Beamten. Sie grenzten mit den „eugenischen Maßnahmen“ bestimmte kranke Menschen und mit den „Nürnberger Gesetzen“ die gesamte jüdische Bevölkerung aus der Gesellschaft aus. Schließlich setzte die von Goebbels inszenierte „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 ein unmissverständliches Signal: Für missliebige Intellektuelle, Schriftsteller und Wissenschaftler war in Deutschland kein Platz mehr.

Der Prozess der politischen und ideologischen Gleichschaltung erfasste auch die deutschen Universitäten. Ein großer Teil der Studierenden und der Professoren war schon in der Weimarer Republik von antidemokratischem Denken geprägt, und nicht wenige hatten sich bereits vor 1933 der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. So mussten sie nach dem 30. Januar oft nicht erst gezwungen werden, die Universitäten in das NS-Regime einzugliedern, sie nach dem Führerprinzip umzustrukturieren, Forschung und Lehre der NS-„Weltanschauung“ anzupassen, und aus der Gruppe der Professoren und der Studierenden wie auch aus der Verwaltung diejenigen auszugrenzen, die dem totalitären und rassistischen Regime der Nazis nicht genehm waren. Die Universitäten des „Dritten Reiches“ erfüllten, wenn nicht in vorauseilendem Gehorsam, so doch bereitwillig das, was ihnen die NS-Machthaber im Namen des Führers befahlen. Hierzu gehörte auch die Weisung, den vom Regime bezeichneten Personen den Doktorgrad zu entziehen. Alles dies gilt auch für die Universität Gießen.

 

Doktorgrad-Entziehungen in Gießen

 

In den meisten Fällen wurden mit der Doktorgrad-Entziehung politische Verfolgungsmaßnahmen fortgesetzt. Sehr häufig war die Aberkennung des Doktorgrades eine Sanktionsmaßnahme nach der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und der damit verbundenen Ausbürgerung. Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit wurde der Exilant zugleich für „unwürdig“ erklärt, den akademischen Grad zu führen. Die Verschärfung der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik hatte auch zur Folge, dass zum Beispiel nach Verurteilungen wegen „Rundfunkverbrechen“ und „Rassenschande“ die Weiterführung des Doktortitels untersagt wurde.

Auch strafgerichtliche Verurteilungen nicht-politischer Art konnten in bestimmten Fällen als Nebenstrafe – wie schon in der Weimarer Republik – zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte einschließlich akademischer Würden führen. In anderen solchen Fällen hatten die Universitäten einen eigenen Spielraum, um über die „Würdigkeit“ oder „Unwürdigkeit“ eines Promovierten und damit über Fortbestand oder Entziehung des Doktortitels zu entscheiden.

An der Universität Gießen sind – bei lückenhafter Aktenlage – 51 Verfahren zur Entziehung des Doktorgrads seit 1935 nachweisbar. Hiervon waren vor allem jüdische Promovierte betroffen. Wegen Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit beziehungsweise wegen der Einleitung von Ausbürgerungsverfahren wurden in 35 Fällen Entziehungen ausgesprochen, in einem weiteren Fall wurde das Promotionsverfahren eingestellt. In 16 Fällen wurde der Doktorgrad unter Verweis auf andere Gründe der „Unwürdigkeit“ entzogen, und in einem Fall wurde das Doktordiplom verweigert. Unter diesen Fällen befinden sich vier, die nach heutigem Kenntnisstand nicht abschließend beurteilt werden können. Ihre Namen werden deshalb hier nicht genannt.

 

Rehabilitation der Opfer

 

Angesichts des Geschehenen ist festzustellen: Unsere Universität hat am nationalsozialistischen System und an seinen inhumanen Praktiken ihren eigenen Anteil gehabt. Die Universitäten waren nicht – wie immer wieder gesagt worden ist und noch wird – bloße Objekte und als solche in ein ihr grundsätzlich fernes und fremdes Unheil verstrickt. Vielmehr waren sie selbst ein Element dieses Unrechtsystems und trugen das Ihre zu seiner Wirksamkeit und Dauer bei. So dienten die Doktorgrad-Entziehungen auf ihrem besonderen Feld vor allem dem politischen Ziel, ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen zu diskriminieren und aus der so genannten Volksgemeinschaft auszuschließen, ihre Ehre und Würde – und letztlich sie selbst – auszulöschen.

Die Justus-Liebig-Universität sieht sich als Institution – auch wenn seitdem viele Jahrzehnte vergangen und die damals handelnden Personen längst nicht mehr im Amt sind – in der Pflicht, sich von diesen Akten politischer Willkür mit Entschiedenheit und tiefem Bedauern zu distanzieren. Der Senat der Universität Gießen hat die Doktorgrad-Entziehungen bereits im Jahr 1967 grundsätzlich für nichtig erklärt. Dieser Beschluss wurde damals weder der Öffentlichkeit noch den Betroffenen mitgeteilt. Eine Rehabilitation fand nicht statt.

Die Justus-Liebig-Universität erklärt deshalb heute öffentlich die Doktorgrad-Entziehungen, mit denen die Menschenwürde der Betroffenen und die Freiheit der Wissenschaft gleichermaßen missachtet wurden, im Falle der nachfolgend genannten Personen als von Anfang an nichtig und verleiht in zwei Fällen posthum den vorenthaltenen Doktorgrad.

 

Dr. Albert Aaron

Dr. Erich Alexander

Dr. Richard Aninger

Dr. Max Baumgart

Dr. Karl Becht (posthum)

Dr. Fritz Bernius

Dr. Gustav Birkmann (posthum)

Dr. Felix Cahn

Dr. Karl Dahl

Dr. Alfred Dang

Dr. Hans Ebeling

Dr. Ludwig Ehrmann

Dr. Walter Eisen

Dr. Theodor Engel

Dr. Erich Escher

Dr. Walter Fabian

Dr. Heinrich Flachsbarth

Dr. Rudolf Frank

Dr. Eugen Goldberg

Dr. Walter Gottschalk

Dr. Walter von Hahn

Dr. Heinrich Hanau

Dr. Leo Hirschland

Dr. Hermann Holzer

Dr. Wilhelm Hopmann

Dr. Ernst Israel

Dr. Werner Joseph

Prof. Dr. Ernst Paul Kahle

Dr. Max Katten

Dr. Moritz Katz

Dr. Theodor Keller

Dr. Siegfried Klein

Dr. Hans Marcuse

Dr. Ferdinand Meyer

Dr. Ernst Morgenroth

Dr. Walter Oppenheimer

Dr. Joachim Prinz

Dr. Friedrich Quack

Dr. Felix Röttgen

Dr. Paul Rosenbaum

Dr. Walter Schirren

Dr. Johannes Schneider

Dr. Joseph Straeter

Dr. Hugo Strauss

Dr. Frieda Vogel

Dr. Franz Wasiak

Dr. Julius Weinberg

Dr. Gustav Wendel

Dr. Walter Zabolitzky

 

Die Justus-Liebig Universität verpflichtet sich, an ihrem Platz dafür einzutreten, dass sich solche Akte der Ausgrenzung und Verfolgung nicht wiederholen.

 

Das Erweiterte Präsidium der JLU

Das Präsidium der JLU