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Terrakotten aus dem Schwarzmeergebiet

Satyrfigur

TI-46

Weibliche Kopfprotome mit Stephane und Schleier

Frauenkopfgefäß

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

Im Jahr 1908 erwarb Bruno Sauer (1861-1919) für die Gießener Antikensammlung zahlreiche Stücke aus dem „Besitze des Herrn A. Vogell“[1], darunter auch Terrakotten, zu denen weibliche Protomen, ein hellenistisches Frauenkopfgefäß und eine kleine Satyr- Figur gehören. Arnold Vogell hatte im Zarenreich lange Zeit als Kaufmann in Nikolajeff, dem alten Olbia an der Nordküste des Schwarzen Meeres, gelebt. So gelangten zahlreiche antike Fundstücke[2], die er in Südrussland erworben hatte, in seine Kollektion. 

Seit dem späteren 7. Jh. v. Chr.hatten sich Griechen in der nördlichen Küstenregion des heute so genannten Schwarzen Meeres (im Altertum: Pontos Euxeinos= das gastliche Meer) niedergelassen und es dort zu einigem Wohlstand gebracht[3]. Wie die Funde von Vasen und Keramikfragmenten zeigen, bestanden enge Handelsbeziehungen nach Ionien, vor allem nach Rhodos und Chios. Seit dem Ende des 6. Jhs. kam attische Keramik hinzu[4]. Im 5. Jh. v. Chr. entstand das Bosporanische Reich, ein dynastisch strukturierter Territorialstaat[5], der die griechische und lokale Bevölkerung zu beiden Seiten des kimmerischen Bosporus, zwischen der östlichen Krim und der Tamanhalbinsel, zusammenfasste[6]. Die Hauptstadt Pantikapaion, das heutige Kertsch, wurde wahrscheinlich im 6. Jh. v. Chr. von Milet gegründet[7]. Große Mengen von Getreide und Fisch, Leder und Wolle, Holz, Edelmetall und Sklaven[8] gelangten zu Schiff nach Athen, das seinerseits Luxusartikel, nämlich Wein, Olivenöl und bemalte Keramik lieferte. Vor allem in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. muss Athen seinen Bedarf an Getreide überwiegend durch die Einfuhr aus Pantikapaion gedeckt haben[9]. Im Gegenzug exportierte es die nach ihrem Hauptfundort so genannten Kertscher Vasen, eine Gattung attischer Gefäße, deren Form und Motive dem Geschmack der Adressaten entsprechend gestaltet wurden[10].

Auch die ersten Terrakotten kamen aus Ionien[11] (Samos, Rhodos), gefolgt von Importen aus Korinth und Attika. Wenig später nahmen lokale Werkstätten die Produktion von Tonfiguren auf. Sie ahmten ihre Vorbilder anfangs nach, um sie später abzuwandeln[12]. Wie im Kerngebiet von Hellas entstanden Statuetten thronender Frauen[13], Koren (Mädchengestalten)[14], weibliche Halbfiguren[15], Protomen[16] und nackte Jünglinge[17]. Seit dem 4. Jh. v. Chr. und in hellenistischer Zeit häuften sich Hermen[18] und Statuetten aus dem Umfeld der Aphrodite[19] und des Wein- und Theatergottes Dionysos[20]. Eine regionale Besonderheit sind  Marionetten, Tonfiguren mit menschlichen oder dämonischen Köpfen und separat geformten Beinen, die mit Ausnahme der beweglichen Hüftgelenke durchgehend starr, ohne gelenkige Knie, gefertigt sind[21].   

Heute richtet sich das öffentliche Interesse an den antiken Städten der nördlichen  Schwarzmeerküste eher auf die nahe gelegenen skythischen Gräber, die außer Terrakotten und Vasen auch reiche Goldschätze und kostbaren Schmuck enthalten[22].

 


[1] J. Boehlau, Griechische Altertümer südrussischen Fundorts aus dem Besitze des Herrn A. Vogell, Karlsruhe (Cassel 1908) 54 Nr. 532 Taf. 8, 2; A. Klöckner – M. Recke (Hrsg.), Gönner, Geber und Gelehrte. Die Gießener Antikensammlung und ihre Förderer (Nürtingen 2007) 24-27; M. Recke, Die Klassische Archäologie in Gießen.100 Jahre Antikensammlung (Gießen 2000) 36-38 mit Anm. 129. 130.

[2] Boehlau a. O. 2; Klöckner – Recke a. O. 24; J. Merten, Aus dem Nachlass von Erich Gose. Ein unbekanntes Werk von Arnold Vogell über das antike Olbia, TrZ 61, 1998, 331-342.

[3] J. Boardman, Greek Archaeology on the Shores of the Black Sea, Archaeological Reports 1962-63, 34-51.

[4] J. Boardman, Kolonien und Handel der Griechen (München 1981) 286.

[5] „Das Land, das jetzt die Skythen bewohnen, soll nämlich vor Zeiten den Kimmeriern gehört haben“, Herodot, Historien 4, 11. Dazu auch A. Horneffer – H. W. Haussig – W. F. Otto (Stuttgart 1955); M. Pfrommer, Am Schnittpunkt vieler Welten. Die Griechenstädte der nördlichen Schwarzmeerküste als Stätten kultureller Begegnung zwischen dem 4. und dem 1. Jahrhundert v. Chr., Nürnberger Blätter zur Archäologie 9, 1992-93, 9-11.

[6] F. Fless, Griechische Kultur im nördlichen Schwarzmeergebiet – Das Bosporanische Reich, in: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit (Berlin 2002) 575-578.

[7] Strabon, Geographica VII 4, 4.  Dazu A. V. Podossinov, Am Rande der griechischen Oikumene, in: J. Fornasier – B. Böttger (Hrsg.), Das Bosporanische Reich (Mainz 2002) 21-29; Der kleine Pauly I (1964) Sp. 931-933 s. v. Bosporanum Regnum (Chr. Danoff).

[8] H. G. Gundel, Die Krim im Altertum (Heidelberg 1942) 122 f.; G. M. Boháč, Kertscher Vasen (Prag 1958) 130 f.; K. Schefold, Untersuchungen zu den Kertscher Vasen (Berlin 1934); Boardman a. O. 1962-63, 45.

[9] Demosthenes XX, 31; Pfrommer a. O. 1994, 10.

[10] M. Langner, Athen in der Fremde: Die Athenisierung der griechischen Welt, in: U. Kästner – M. Langner – B. Rabe (Hrsg.), Griechen, Skythen, Amazonen (Berlin 2007) 18; A. A. Trofimova (Hrsg.), Greeks on the Black Sea (Los Angeles 2007) 147-280.

[11] J. Bouzek, Terracottas, in: Studies of Greek Pottery in the Black Sea Area (Prag 1990) 103-109; M. M. Kobylina, Terakotovyje statuėtki Pantikapeia i Phanagorii (Moskau 1961) 27 f. und 40 Taf. 1, 2 und 4, 2. Übersetzungen aus dem Russischen verdanke ich E. Kunz, Gießen und P. Krasznai, Budapest.

[12] Bouzek a. O. 105 f. ;  

[13] M. M. Kobylina, Terrakoty Severnogo Pričernomor’ja. Teil Č. 1 / 2 (Moskau 1970) 83 Taf. 27, 1-5.

[14] M. M. Kobylina, Terrakotovye statuėtki Teil Č. 3 Pantikapej (Moskau 1974) 7 f. Taf. 3, 1.

[15] Kobylina a. O. Teil Č. 1 / 2, 1970, 79 Taf. 21; dies. a. O.Teil Č. 3 1974, 18 Taf. 6 und 7, 2; dies., Pridonye i Tamankij Poluostrov Teil Č. 4 (Moskau 1974) 45 Taf. 51, 5 Taf. 52, 2.

[16] Kobylina a. O. Teil Č. 1 / 2, 1970, 34 Taf. 10, 1. 2; dies. Teil Č. 4, 1974, 33 f. Taf. 37. 38 .

[17] Kobylina a. O. Teil Č. 3 1974, 28 Taf. 30, 5.

[18] Kobylina a. O. Teil Č. 4, 1974,19 Taf. 13, 3; 49 57, 4.

[19] Ebenda 18 Taf. 13, 4; 28 Taf. 31, 2

[20] Boardman 1962-63, 43.47; Bouzek a. O. 1990, 103. Zu Wein und Satyrn: Kobylina a. O. Teil Č.4, 1974, 19 Taf. 14, 4; 26 Taf. 24, 3. Mit Bezug zur attischen Komödie: ebenda 38 Taf. 44, 4. 12; 39 Taf. 45, 2. 3.

[21] A. M. Butyagin, Barbarian Art in the Cities of the Northern Pontic Region, in: Trofimova a. O., 65-69 Abb. 9.2 und S. 205 f. Nr. 104. 105; P. C. Bol – E. Kotera, Bildwerke aus Terrakotta, Liebieghaus Frankfurt am Main (Melsungen 1986) 227; F. W. Hamdorf, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München 2 (Lindenberg im Allgäu 2014) 664 f.;  A. Derewitzky – A. Pavlowsky – E. von Stern (Hrsg.), Das Museum der Kaiserlich Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde. Lieferung  1 und 2 Terracotten (Frankfurt a. Main – Odessa 1897 und 1898) 31- 35.

[22] Boardman 1981, 297; J. Fornasier – B. Böttger (Hrsg.), Das Bosporanische Reich (Mainz 2002) 10;

Trofimova a. O. 147-280.