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Der Stammbaum der Mikrooganismen

Internationales Wissenschaftlerteam berechnet einen der größten Stammbäume für Prokaryoten

Nr. 9 • 16. Januar 2020
Wie haben sich die Arten entwickelt? Darwins Beobachtungen führten ihn zu der Schlussfolgerung, dass alles Leben einen gemeinsamen Ursprung haben müsse. Erste Versionen seines „Stammbaums des Lebens“ beruhten auf anatomischen oder physiologischen Merkmalen höherer Lebewesen und ermöglichten plausible Einordnungen – zum Beispiel, dass die Gruppe der Hominiden (Menschenartigen) und Menschenaffen einen gemeinsamen Vorfahren hatten und so fort. Für mikroskopisch kleine Organismen wie Bakterien, Pilze und Urbakterien (sogenannte Archaeen) reicht die Anzahl der beobachtbaren Merkmale oft nicht aus, um eine klare Einordnung in einen Stammbaum zu ermöglichen. Biologinnen und Biologen bedienen sich daher molekularer Merkmale wie dem Erbgut. Ein internationales Forscherteam mit Beteiligung eines Wissenschaftlers der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) hat nun auf Basis von rund 1,1 Milliarden Aminosäuredaten aus über 10.000 Mikroorganismen einen der größten und genauesten Stammbäume für prokaryotische Organismen – zelluläre Lebewesen ohne Zellkern – berechnet.

Dieser neue Stammbaum ermöglicht nicht nur eine hierarchische Einordnung wie im Beispiel der Affen, sondern berechnet auch die Zeit, die zwischen den heute existierenden Mikroorganismen und ihren jeweiligen gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Kann man diese Zeitabstände präziser abschätzen, lassen sich Einflüsse des Mikrobioms (die Gesamtheit der in und um uns lebenden Bakterien, Viren und Pilze) beispielsweise auf unsere Gesundheit oder das Wachstum von Pflanzen besser erforschen.

„Als kleine Überraschung und im Widerspruch zu früheren Stammbäumen zeigte sich, dass die bislang vermutete klare Trennung von Bakterien und Archaeen doch nicht so prominent ausgebildet ist, d.h. die Artbildung zu Urzeiten war wahrscheinlich viel kontinuierlicher als bisher gedacht“, so Prof. Dr. Stefan Janssen, Professor für Algorithmische Bioinformatik an der JLU, der an der Studie beteiligt ist. „Dieses Ergebnis erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass frühere Berechnungen auf einer geringeren Zahl an Markergenen beruhten.“

War in den 1970er-Jahren das sehr teure und zeitaufwändige Sequenzieren des Erbguts das größte Problem bei der Erstellung molekularer Stammbäume, ist es heutzutage die schiere Masse an Daten, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit modernen Sequenziermethoden produzieren. Trotz der enormen Rechenleistung von zwei Petaflop des San Diegoer Supercomputers „Comet“ war es notwendig, die Berechnung auf 381 Markergene und 10.575 möglichst repräsentative Mikroorganismen zu beschränken. Das Forscherteam arbeitet bereits an neuen algorithmischen Methoden, um die Anzahl der Organismen im Stammbaum zu erhöhen. Schon jetzt ist von mehr als 200.000 Mikroorganismen das Erbgut sequenziert. Die Arbeit wird den Forscherinnen und Forschern hier nicht ausgehen: Schätzungen zufolge sind Millionen Arten an Mikroorganismen noch unbekannt.

  • Publikation

Zhu, Q., Mai, U., Pfeiffer, W. et al. Phylogenomics of 10,575 genomes reveals evolutionary proximity between domains Bacteria and Archaea. Nat Commun 10, 5477 (2019)
DOI: 10.1038/s41467-019-13443-4

  • Weitere Informationen

https://www.nature.com/articles/s41467-019-13443-4

  • Kontakt


Professur für Algorithmische Bioinformatik
Telefon: 0641 99-35822

 

Presse, Kommunikation und Marketing • Justus-Liebig-Universität Gießen • Telefon: 0641 99-12041






Schlagwörter
Forschung