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Carl Vogel, Die letzte Krankheit Goethe's (1833)

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** Carl Vogel: Die letzte Krankheit Goethe's (...). Nebst einer
** Nachschrift von C.W. Hufeland. In: Journal der
** practischen Heilkunde (1833) 3-32. Nachdruck mit einem Vorwort
** von Fritz Ebner. Darmstadt: E. Merck AG, o.J. (Vorwort 1961).
** Hufelands Nachschrift auf den Seiten 30-32.
** Bearbeitung: Thomas Gloning 7/99
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Die
letzte Krankheit Goethe's,
beschrieben und nebst einigen andern
Bemerkungen über denselben,
mitgetheilt
von
Dr. Carl Vogel,
Grossherzogl. Sächsischem Hofrathe und Leibarzte
zu Weimar.

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Nebst
einer Nachschrift
von
C. W. Hufeland.

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Wenn ich, eigner Mahnung, wie fleissig erinnernden
Gönnern und Freunden ungehorsam,
bisher zögerte, die dennoch nicht wohl für immer
abzulehnende Lösung der schmerzlichen
Aufgabe zu unternehmen, welche der Gegenstand
der folgenden Blätter ausmacht, so möge
mich, was die ersten Wochen nach dem Trauerfalle
angeht, das niederdrückende Gefühl unermesslichen
Verlustes, -- sechs Jahre lang
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beglückte der Hochverehrte mich als Arzt und
später als Amtsgehülfen im täglichen freundlichen
Umgange mit ausgezeichnetem Wohlwollen
und Vertrauen! -- für die spätere Zeit
eine gewiss verzeihliche Abneigung, mir die
Vorgänge so betrübter Stunden im peinlichsten
Detail nochmals zu vergegenwärtigen, wo nicht
rechtfertigen, doch entschuldigen. Ausserdem
hatte ich sowohl der Weimarischen Zeitung,
zum Nekrolog Goethe's, als auch dem Hrn.
Dr. Müller, zu seinem empfehlungswerthen
Werkchen: Goethe's letzte literarische Thätigkeit,
Verhältniss zum Auslande und Scheiden.
Jena, bei Frommann 1832, ziemlich ausführliche
und an beiden Orten benutzte Notizen
über die letzte Krankheit Goethe's mitgetheilt.

Nunmehr aber, da die, von dem zuvorkommenden
Anerbieten eines Platzes in seinem
weitverbreiteten Journale begleitete, gewichtige
Aufforderung des hochverdienten Herrn Staatsraths
Hufeland mit der Zeit ruhigerer Fassung
bei mir zusammentrifft, säume ich nicht länger,
dem vielseitig ausgesprochenen Verlangen, auf
den Grund beinahe gleichzeitiger, sorgfältiger
Niederschreibungen des von mir selbst während
fast ununterbrochener Anwesenheit am Sterbebette
Beobachteten und mit Benutzung glaubwürdiger
Berichte anderer aufmerksamer Augenzeugen
nach Kräften Genüge zu leisten.

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Goethe hatte sich nach seiner Wiederherstellung
von einem heftigen Lungenblutsturze, der
ihn im December 1830 befiel, bis in die Mitte
des März 1832 einer vorzüglich guten Gesundheit
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erfreut, und namentlich auch den letzten Spätherbst
und Winter, eine ihm sonst immer
feindliche und verhasste Jahreszeit, ganz ungewöhnlich
heiter und ohne irgend bedeutende
körperliche Anfechtung durchlebt. Stellten sich
auch, wie einer unbefangenen Beobachtung
nicht wohl entgehen mochte, Schwächen des
Alters, besonders Steifheit der Gliedmassen,
Mangel an Gedächtniss für die nächste Vergangenheit,
zeitweise Unfähigkeit, das Gegebene
in jedem Augenblicke mit Klarheit schnell zu
übersehen und Schwerhörigkeit bei ihm immer
merklicher ein, so genoss er doch -- und zumal
im Vergleich mit andern Greisen seines
Alters -- noch einer solchen Fülle von Geistes-
und Körperkraft, dass man sich der frohen
Hoffnung, er werde uns noch lange durch
seine Gegenwart erfreuen, mit Zuversicht hingeben
durfte.

Da wurde ich am 16ten März zu ungewöhnlich
früher Stunde, schon um 8 Uhr Morgens,
zu Goethe beschieden. -- In der Regel
sah ich ihn in ärztlicher und amtlicher Beziehung
jeden Vormittag erst um 9 Uhr, und
hatte am vorigen Tage, nach langer Unterhaltung,
ihn sehr heiter und wohl um diese Zeit
verlassen. -- Ich fand ihn im Bette schlummernd.
Bald erwachte er, konnte sich indessen
nicht sogleich völlig ermuntern, und klagte,
er habe sich bereits gestern, während der Rückkehr
von einer, in sehr windigem, kaltem Wetter,
zwischen 1 und 2 Uhr Nachmittags unternommenen
Spatzierfahrt unbehaglich gefühlt,
darauf nur wenig und ohne rechten Appetit essen
mögen, das Bette zeitig gesucht und in
demselben eine zum grössten Theile schlaflose
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Nacht, unter öfters wiederkehrendem, trocknem,
kurzem Husten, mit Frösteln abwechselnder
Hitze, und unter Schmerzen in den
äussern Theilen der Brust unangenehm genug
verbracht. Am wahrscheinlichsten sei eine Erkältung,
die er sich vor dem Ausfahren bei
dem Herübergehen aus seinem sehr stark geheizten
Arbeitszimmer über den kalten Flur in
die nach der Strasse zu gelegenen Gesellschaftszimmer,
leicht zugezogen haben könne, Ursache
der gegenwärtigen Leiden.

Er schien einigermassen verstört, vor allem
aber frappirte mich der matte Blick und
die Trägheit der sonst immer hellen und mit
eigenthümlicher Lebhaftigkeit beweglichen Augen,
so wie die ziemlich starke, ins Livide
fallende Röthe der Bindehaut der untern Augenlider,
vornehmlich des rechten. Der Athem
war fast ruhig, nur durch trocknen Husten
und tiefe Seufzer, -- letztere eine gewöhnliche
Erscheinung in allen Krankheiten Goethe's,
-- öfters unterbrochen, die Stimme etwas
heiser. Willkührliches kräftiges Ein- und
Ausathmen ging zwar mühsam von Statten,
vermehrte aber den bereits erwähnten Schmerz
auf der Brust in keiner Weise. Die an der
Wurzel schwach und gelblich belegte Zunge
glich hinsichtlich ihrer Farbe der Bindehaut
der untern Augenlider. Dabei beschwerte sich
der Kranke über Ekel vor Speisen, über Durst
und Aufstossen von Luft aus dem Magen. Der
ganze Unterleib, vorzüglich die epigastrische
Gegend, war aufgetrieben und gegen äussern
Druck empfindlich, der Stuhlgang mangelte seit
zwei Tagen. Die Haut war trocken, mässig
warm, der Urin lehmig, der Puls weich, mässig
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voll, wenig frequent. Ferner: Wüstheit
des Kopfes, Unaufgelegtheit zum Denken, auffallend
vermehrte Schwerhörigkeit, Unruhe bei
Zerschlagenheit der Glieder, und daß ganz eigne
resignirte Wesen, welches bei Goethe, während
der letzten Jahre seines Lebens in allen
Krankheiten an die Stelle eines in ähnlichen
Fällen früher gewöhnlichen aufbrausenden Unmuthes
getreten war und sich häufig in den
Worten aussprach: "Wenn man kein Recht
mehr hat, zu leben, so muss man sich gefallen
lassen, wie man lebt."

Bei dem sehr hohen Alter des Kranken,
und weil damals in Weimar dergleichen
catarrhalisch-rheumatische Zufälle nicht selten in,
zum Theil tödtliche Nervenfieber übergingen,
fand ich mich bewogen, vorlängst erhaltenen
höchsten Befehlen gemäss, unserer, den lebhaftesten
Antheil an dem Wohlergehen des
Allverehrten jederzeit bethätigenden Frau Grossherzogin
ungesäumt schriftlich zu melden, Goethe
leide seit gestern an einem Catarrhalfieber,
und wenn ich schon im Augenblicke besonders
gefährliche Krankheitszufälle nicht wahrnähme,
so wolle mir doch das Ganze allerdings bedenklich
vorkommen. Uebrigens hatte ich dem
Patienten schon zuvor eine Auflösung von Salmiak
und einigen Quentchen Bittersalz, als
Arznei, und Graupenschleim, mit Wasser zubereitet,
zum Getränk, neben einem, den Umständen
angemessenen Verhalten verordnet.

Bereits am Abend zeigte das Uebel eine
bessere Gestalt. Der Kranke fand sich nach
mehreren, reichlichen, breiartigen Stuhlgängen
sehr erleichtert. Sein Kopf war freier, das
Gemüth heiterer, der Blick lebhafter, der Unterleib
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weicher, weniger empfindlich und weniger
aufgetrieben. Die Haut schien feucht
werden zu wollen, der Husten hatte sich seltener
eingestellt. Der Appetit fehlte noch; das
Fieber blieb vom Anfang an sehr mässig. Es
wurden Pulver von Goldschwefel und Zucker
verschrieben. Nach 6 Uhr nahm Goethe, wie
Dienstags und Freitags gewöhnlich, den Besuch
des Hofraths Riemer an, und liess sich durch
denselben einige Zeit von Sprachstudien
unterhalten.

Sonnabend früh: Der Kranke hatte ziemlich
geschlafen; der Kopf war noch freier, das
Gemüth theilnehmender, das Gehör feiner, der
Blick heller und beweglicher, der Husten mässiger,
lockerer, das Seufzen seltener, als am
gestrigen Tage. Die Stimme hatte ihre Heiserkeit,
die Röthe an den Augenlidern ihr
Schmutziges verloren. Die Haut überall dunstend,
turgide und warm; die Zunge roth, weniger
belegt. Keine Schmerzen mehr auf der
Brust. Gegen Morgen eine freiwillige, reichliche,
breiartige Ausleerung durch den Stuhl.
Der Urin noch trübe, lehmig; der Puls weich,
etwa 90 Mal in einer Minute schlagend. Kein
Appetit. Die Pulver hatten nach dem eignen
Gefühle des Kranken so wohlthätig gewirkt,
dass er um weitere Anwendung derselben bat.
Da sein Wunsch meiner Absicht begegnete,
wurde alle 3 Stunden ein Drittel Gran Goldschwefel
auch noch fernerhin gegeben und zugleich
gestattet, den Graupenschleim von nun
an mit schwacher Fleischbrühe zu bereiten.

Mittags immer noch nur wenig Appetit;
indessen hatte der Patient etwas Griessuppe
genossen. Nachher einige Stunden hindurch
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ruhiger und erquickender Schlaf. Abgang vieler
Blähungen. Husten sehr selten und kaum
beschwerlich. Beim Abendbesuch unbedeutendes
Fieber, Neigung zu leichter Conversation,
welche der Kranke schon wieder auf die in
gesunden Tagen gewohnte Art mit Scherzen
würzte.

In der Nacht zum Sonntag siebenstündiger
ruhiger Schlaf, heilsame Transpiration. Morgens
einiger Husten mit leichtem Auswurf. Der
Urin hell, gelb, mit starkem schleimigem Bodensatze;
Zunge und Geschmack rein, kein
Fieber. Der zum Frühstück wieder erlaubte
Kaffée und ein leicht verdauliches Gebäck
schmeckten sehr gut und bekamen wohl. Freiwillige
Leibesöffnung.

Der Kranke blieb etliche Stunden ausserhalb
des Bettes. Er fühlte sich nur noch ein
wenig matt. Die Heiterkeit seines Geistes war
ungetrübt. Medicin wurde nicht verordnet,
wohl aber, auf Verlangen, der massige Genuss
des gewöhnlichen Würzburger Tischweins, und
für den Mittagstisch etwas Fisch und Braten
verwilligt. Als ich ihn Abends besuchte, lobte
Goethe sein Befinden und war sehr gesprächig,
besonders aber pries er in einem langen launigen
Sermon den Goldschwefel, nach dessen
Herkommen, Bereitungsart und ärztlichem Gebrauche
er sich umständlich erkundigte.

Die Nacht zum Montag wiederum ruhig;
während des Schlafes immer noch ziemlich
starke Transpiration. Am Morgen traf ich den
Kranken neben dem Bette sitzend, sehr aufgeräumt
und nur noch körperlich etwas schwach.
Er hatte in einem französischen Heft gelesen;
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fragte gewohntermassen nach mancherlei Vorfällen
und zeigte grosses Begehren nach dem
zum Frühstück seit einigen Jahren herkömmlichen
Glase Madeira. Ich fand keinen Grund,
seiner Neigung entgegen zu seyn, und er trank
und ass mit vielem Behagen, blieb auch fast
den ganzen Tag über auf. Gegen Abend traf
ich ihn bei der Musterung von Kupferstichen,
sprach mit ihm durch, was sich während seiner
Krankheit in dem ihm untergebenen Departement
ereignet hatte, zeigte ihm die Berliner
Choleramedaille, über welche er sich in
sehr witzigen Bemerkungen ausliess, spasshafte
Entwürfe zur Darstellung desselben Gegenstandes
vorbrachte und sich vorzüglich darüber
sehr vergnügt äusserte, dass er am folgenden
Morgen im Stande seyn würde, sein gewohntes
Tagewerk wieder vorzunehmen:

"doch zwischen heut und morgen
liegt eine lange Frist!" --

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Seit dem Ableben seines einzigen Sohnes *)
und seit dem Lungenblutsturze, welcher ihn
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einige Wochen später den Pforten des Grabes
so nahe brachte, hatte Goethe seines Endes,
als nun nicht mehr weit entfernt, gegen mich
öfters mit Ruhe Erwähnung gethan, und besonders
mehrmals Veranlassung genommen, mir,
"der ich doch länger, als er, dabei wirksam seyn
würde," die von ihm gepflegten Anstalten, und
vorzüglich auch einzelne bei denselben Angestellte
zu empfehlen. Im Laufe der heutigen
Unterhaltung kam er auf diese Angelegenheiten
zurück, und theilte mir nochmals seine
darauf bezüglichen Absichten, Pläne und Hoffnungen
im Zusammenhange und ausführlich
nit. Wer ihn da, so wie bei frühern ähnlichen
Gelegenheiten gehört hätte, wenn die,
vielfältiges Zeugniss enthaltenden Acten offen
stünden, wer endlich, wie ich, so mancher
Wohlthaten, die Goethe aus eignem Antriebe
und Vermögen Hülfsbedürftigen, besonders
Kranken, im Stillen angedeihen liess, Vermittler
gewesen wäre, der würde nicht zweifeln,
dass der so häufige als lieblose Vorwurf: der
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Verblichene habe sich um das Wohl und Wehe
Anderer, namentlich auch seiner Dienstuntergebenen,
höchstens aus grobem Egoismus bekümmert,
nur von vorlauter, boshafter Verläumdung,
oder von der habgierigsten Unverschämtheit
ersonnen worden seyn könne. Allerdings
war ihm gewöhnliche Bettelei und
ungehörig erzwungene Wohlthätigkeit in hohem
Grade zuwider, und gern vermied er, --
überall ein in Folge unangenehmer Erfahrungen
vielleicht zu unbedingter Liebhaber des
Geheimnisses, -- bei Austheilung seiner Wohlthaten
jede Ostentation.

Froh, dass ein Leiden überstanden, ahnten
wir beide in dem Moment nicht, dass
Goethe so eben seinen wirklich letzten amtlichen
Willen kund gegeben habe. Doch hat
er nach diesen Eröffnungen nur noch eine einzige
halb willenlose Amtshandlung verrichtet,
indem er am 20. März, zwei Tage vor seinem
Hinscheiden, die Anweisung zur Auszahlung
einer Unterstützung an eine, ihrer künstlerischen
Ausbildung in der Fremde obliegende,
talentreiche, junge Weimaranerin, für welche
er stets väterlich bedacht war, mit zitternder
Hand, ohne mein Vorwissen unterzeichnete.
Hierbei schrieb er seinen Namen zum letzten
Male. Das Blatt wird unter mehreren andern,
dem Andenken Goethe's geweiheten Sachen auf
der Grossherzogl. Bibliothek zu Weimar sorgfältig
aufbewahrt.

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Die ersten Stunden der folgenden Nacht,
vom 19ten auf den 20sten März, schlief der
Kranke sanft, bei vermehrter Hautausdünstung.
Gegen Mitternacht wachte er auf, empfand zuerst
an den Händen, welche bloss gelegen hatten,
und von ihnen aus später dann auch am
übrigen Körper, von Minute zu Minute höher
steigende Kälte. Zum Frost gesellte sich bald
herumziehender, reissender Schmerz, der, in
den Gliedmassen seinen Anfang nehmend, binnen
kurzer Zeit die äussern Theile der Brust
gleichfalls ergriff, und Beklemmung des Athems,
so wie grosse Angst und Unruhe herbeiführte.
Daneben häufiger, schmerzhafter Drang zum
Urinlassen. Der sparsam ausgeleerte Harn wasserhell.
Die Zufälle wurden immer heftiger;
dennoch erlaubte der sonst bei den geringsten
Krankheitsbeschwerden nach ärztlicher Hülfe
stets so dringend verlangende Kranke dem besorgten
Bedienten nicht, mich zu benachrichtigen,
"weil ja nur Leiden, aber keine Gefahr
vorhanden sey." Erst den andern Morgen um
halb neun Uhr wurde ich herbeigeholt. Ein
jammervoller Anblick erwartete mich! Fürchterlichste
Angst und Unruhe trieben den seit
lange nur in gemessenster Haltung sich zu bewegen
gewohnten, hochbejahrten Greis mit
jagender Hast bald ins Bett, wo er durch jeden
Augenblick veränderte Lage Linderung zu
erlangen vergeblich suchte, bald auf den neben
dem Bette stehenden Lehnstuhl. Die Zähne
klapperten ihm vor Frost. Der Schmerz, welcher
sich mehr und mehr auf der Brust festsetzte,
presste dem Gefolterten bald Stöhnen,
bald lautes Geschrei aus. Die Gesichtszüge
waren verzerrt, das Antlitz aschgrau, die Augen
tief in ihre livide Höhlen gesunken, matt,
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trübe; der Blick drückte die grässlichste Todesangst
aus. Der ganze eiskalte Körper triefte
von Schweiss, den ungemein häufigen, schnellen
und härtlichen Puls konnte man kaum fühlen,
der Unterleib war sehr aufgetrieben; der
Durst quaalvoll. Mühsam einzeln ausgestossene
Worte gaben die Besorgniss zu erkennen, es
möchte wieder ein Lungenblutsturz auf dem
Wege seyn.

Hier galt es schnelles und kräftiges Einschreiten.
Nach anderthalbstündiger Anstrengung
gelang es, vermöge reichlicher Gaben
Baldrianäther und Liquor Ammonii anisatus,
abwechselnd genommen mit heissem Thee aus
Pfeffermünzkraut und Kamillenblüthen, durch
Anwendung starker Meerrettigzüge auf die Brust
und durch äussere Wärme die am meisten gefahrdrohenden
Symptome zu beseitigen, alle
Zufälle erträglich zu machen. Den im linken
grossen Brustmuskel übrigbleibenden fixen
Schmerz hob noch an dem nämlichen Tage
ein auf die schmerzhafte Stelle gelegtes
Spanisch-Fliegen-Pflaster.

Der fortdauernd brennende Durst wurde
mit einem lauen Getränke, aus schwachem
Zimmtaufguss mit Zucker und Wein, zum Behagen
des Leidenden befriedigt. Der Appetit
kehrte nur noch einmal, wenig Stunden vor
dem Tode, auf einen Augenblick fruchtlos zurück.
Den bequemen Lehnstuhl, in welchem
sich die grosse Angst und Unruhe zuerst gelegt
hatte, vertauschte der Kranke nicht wieder
mit dem Bette.

Gegen Abend war kein besonders lästiger
Zufall mehr vorhanden. Goethe sprach Einiges
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mit Ruhe und Besonnenheit, und es machte
ihm sichtbare Freude, als ich ihm erzählte,
dass im Laufe des Tages ein höchstes Rescript
eingegangen sey, welches eine Remuneration,
für deren Ertheilung er sich angelegentlich verwendet
hatte, gebetenermassen verwillige.

Ich liess einen ziemlich kräftigen Baldrianaufguss
mit Liquor Ammonii anisatus, alle zwei
Stunden einen Esslöffel voll, als Arznei nehmen.
Dabei schlummerte Goethe während der
Nacht zuweilen. Gegen Morgen verbreitete sich
mässiger Schweiss über den ganzen Körper,
das Athmen geschah ohne Hinderniss, die Stimmung
war heiter. Mehrere, durch ein Lavement
bewirkte, reichliche Stuhlgänge schafften
noch mehr Erleichterung. Der Puls, genau gezählt,
92 Mal innerhalb einer Minute schlagend,
zeigte sich ziemlich voll, gleichmässig,
weich. Der Urin ging selten, trübe, bräünlich
und ohne Schmerzen ab. Die Zunge war
feucht, hier und da mit zähem, kaffeebraunen
Schleime belegt, der Speichel sehr zähe und
klebrig. Die Farbe der unbedeckten Körpertheile
bot nichts Auffallendes dar.

Die Besserung nahm bis eilf Uhr Vormittags
deutlich zu. Von da verschlimmerte sich
das Befinden. Um zwei Uhr Nachmittags erschien
der Kranke hinfällig, mit triefendem
Schweisse bedeckt, mit sehr kleinem, häufigem,
weichem Pulse und kühlen Fingerspitzen.
Die äussern Sinne versagten zuweilen ihren
Dienst, es stellten sich Momente von Unbesinnlichkeit
ein. Dann und wann liess sich ein
leises Rasseln in der Brust vernehmen.

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Nach etlichen Gaben eines Decocto-Infusums
von Arnica und Baldrian mit Kampher
hob sich der Puls und wurde ein wenig härter.
In die Finger kehrte Wärme zurück.
Die Füsse, durch Wärmflaschen geschützt, waren
noch nicht wieder kalt geworden. Der
Schweiss minderte sich.

Bald aber gewannen alle Erscheinungen
von neuem ein sehr bedenkliches Ansehen.
Das Rasseln in der Brust verwandelte sich in
lauteres Röcheln. Abends neun Uhr war der
ganze Körper kalt, der Schweiss durch vielfache,
meistens wollene Bekleidung und Bedeckung
gedrungen. Die lichten Zwischenräume
von Besinnung kamen weniger häufig und dauerten
immer kürzere Zeit. Die Kälte wuchs,
der Puls verlor sich fast ganz, das Antlitz
wurde aschgrau. Sehr zäher, klebriger Schleim
im Munde, gereichte zu grosser Unbequemlichkeit.
Die Züge blieben ruhig. In seinem
Lehnstuhl sitzend, das Haupt nach der linken
Seite geneigt, antwortete Goethe noch zuweilen
und immer deutlich auf die, an ihn gerichteten
Fragen, deren ich indessen, um jede,
bloss die Sanftheit des unvermeidlichen Scheidens
störende Aufregung zu verhüten, nur wenige
zuliess.

Er schien von den Beschwerden der Krankheit
kaum noch etwas zu empfinden, sonst
würde er bei der ihm eigenthümlichen Unfähigkeit,
körperliche Uebel mit Geduld zu ertragen,
mindestens durch unwillkührliche Aeusserungen,
seine Leiden zu erkennen gegeben
haben. Aeussere Eindrücke wirkten auf das,
mit den Sinnen des Gesichts und des Gehörs
gewissermassen isolirt fortlebende, Gehirn noch
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lange und zum Theil lebhaft und angemessen,
so wie die eigentliche Geistesthätigkeit vielleicht
erst mit dem Leben selbst erlosch. Die
Phantasie spielte beinahe und mit angenehmen
Bildern.

Schwerlich hatte Goethe in diesen Momenten
ein Vorgefühl seiner nahen Auflösung. Wenigstens
entsprachen die Zeichen, welche man
auf das Vorhandenseyn eines solchen Vorgefühls
beziehen möchte, denjenigen nicht, deren
er sich wohl früher bediente, um anzudeuten,
wie er hinsichtlich der muthmasslichen Dauer
des ihm noch beschiedenen Lebensrestes einer
Täuschung sich nicht überlasse. Vielmehr gab
er in seinen letzten Stunden mehrmals deutliche
Beweise von Hoffnung auf Genesung und
zwar unter Umständen, -- namentlich bei fast
völlig abwesender Besinnlichkeit, -- welche
die Vermuthung, er habe nur die Seinigen zu
beruhigen, beabsichtigt, als ganz unwahrscheinlich
darstellen müssen.

Die Sprache wurde immer mühsamer und
undeutlicher. "Mehr Licht" sollen, während
ich das Sterbezimmer auf einen Moment verlassen
hatte, die letzten Worte des Mannes gewesen
seyn, dem Finsterniss in jeder Beziehung
stets verhasst war. Als später die Zunge den
Gedanken ihren Dienst versagte, malte er, wie
auch wohl früher, wenn irgend ein Gegenstand
seinen Geist lebhaft beschäftigte, mit dem Zeigefinger
der rechten Hand öfters Zeichen in die
Luft, erst höher, mit den abnehmenden Kräften
immer tiefer, endlich auf die über seinen
Schooss gebreitete Decke. Mit Bestimmtheit
unterschied ich einigemal den Buchstaben W.
und Interpunctionszeichen.

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Um halb zwölf Uhr Mittags drückte sich
der Sterbende bequem in die linke Ecke des
Lehnstuhls, und es währte lange, ehe den
Umstehenden einleuchten wollte, dass Goethe
ihnen entrissen sey.

So machte ein ungemein sanfter Tod das
Glücksmaass eines reich begabten Daseyns voll.

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Goethe *) war gross und von starkem, regelmässigem
Knochenbau; nur die untern Gliedmassen
hätten, um eines schönen Verhältnisses
zum Rumpfe willen, ein Geringes länger seyn
dürfen. Wahrscheinlich trug dieser Mangel
dazu bei, dass Goethe'n, wie er in "Dichtung
und Wahrheit aus meinem Leben" erzählt,
das Schliessen zu Pferde weniger gelingen
wollte, als seinen Mitscholaren auf der Reitbahn.
Noch in den letzten Jahren hielt er sich
mit etwas vorragendem Unterleibe und rückwärts
gezogenen Schultern sehr gerade, ja etwas
steif, und schob diess auf die von ihm,
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Behufs besserer Ausdehnung der Brust, frühzeitig
angenommene und auch Andern zu gleichem
Zwecke häufig empfohlene Gewohnheit, die
Hände möglichst viel hinter dem Rücken vereinigt
zu tragen. Seine Brust war breit und
hoch gewölbt, der Athem meistens ruhig und
kräftig, dann und wann mit Seufzern untermischt;
der Puls weich, mässig voll, im Verhältniss
zum Alter immer frequent, etwa wie
bei einem Manne von vierzig Jahren. Nur bei
dem mehr erwähnten Lungenblutsturze zeigte
sein Puls eine wahre Holzhärte und schlug
kaum 50 Mal in der Minute, bis etwa auch
zwei Pfund Blut durch Aderlässe entzogen worden
waren, nachdem schon zuvor das bis zum
Ersticken stromweise aus den geborstenen bedeutenden
Blutgefässen durch den Mund fliessende
Blut ein tiefes und weites Waschbecken
halb angefüllt hatte. Die Venen bildeten an
den Unterschenkeln nicht sehr bedeutende Varicositäten
und schimmerten überall durch die
an allen, in der Regel bekleideten Theilen des
Körpers bis an den Tod ungemein feine, weiche,
weisse, zu vermehrter Transpiration, so
wie auch zu Hautkrisen noch in hohen Jahren
sehr geneigte Haut deutlich durch. Das
greise Haupt war mit seideweichem grauem,
täglich sorgfältig gekräuseltem Haar dicht besetzt.
Der Hals fiel durch bedeutende Torosität
auf. Den ganzen Körper, mit Ausnahme
des Kopfes bekleidete reichliches Fleisch. [Fleich._Dr.] Gesicht,
Geruch, Geschmack und Gefühl blieben
bis zum Tode sehr fein und scharf; das Gehör
sagte dagegen immer mehr ab, und besonders
bei trübem, nasskaltem Wetter musste
man oft sehr laut sprechen, wenn man von Goethe
gehörig verstanden seyn wollte. Die Geistesverrichtungen
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mit Ausnahme des Erinnerungsvermögens,
zeigten sich noch kräftig. Die früher
so grosse Beweglichkeit der Gedanken
nahm, wie die Leichtigkeit der Muskelactionen,
von Jahr zu Jahr sehr merklich ab. Es
wurde Goethen, der, von seiner frühen Jugend
abgesehen, vielleicht jederzeit zur Bedächtigkeit
und Umständlichkeit neigte, im höhern
Alter ungemein schwer, Entschlüsse zu fassen.
Er selbst war der Meinung, diese Eigenthümlichkeit,
welche er geradezu als Schwäche ansprach,
rühre daher, dass er niemals in seinem
Leben rasch zu handeln genöthigt gewesen sey,
und er priess den Stand eines praktischen Arztes
gelegentlich auch deshalb, weil dem Arzte
nie erlaubt sey, seine Resolutionen zu vertagen.
Auf der andern Seite übertraf ihn aber
wohl nicht leicht jemand an Beharrlichkeit und
selbst Kühnheit im Ausführen des einmal Beschlossenen,
wobei er, als Geschäftsmann, die
päpstliche Commissorialformel: non obstantibus
quibuscunque, gern im Munde führte, und vorkommenden
Falles darnach zu verfahren liebte.
Waren schnelle Entschliessungen nicht zu umgehen,
häuften sich gar die Veranlassungen
dazu in kurzer Zeit zusammen, so machte ihn
das leicht grämlich. Diess war besonders der
Fall, als er nach dem Ableben seines einzigen
Sohnes die längst entwohnte Verwaltung seiner
weitläuftigen Privatangelegenheiten von neuem
übernehmen musste. Arbeiten gingen ihm nicht
mehr recht geläufig von der Hand. Er klagte
in spätern Jahren nicht selten, dass er sich
selbst zu solchen Geschäften, die ihm ehemals
ein Spiel gewesen, jetzt häufig zwingen müsse.
Nur der Sommer 1831 machte hierin eine Ausnahme,
und Goethe versicherte damals oft, er
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habe sich zur Geistesthätigkeit, zumal in produktiver
Hinsicht, seit dreissig Jahren nicht so
aufgelegt gefunden. Rühmte Goethe seine Productivität,
so machte mich das stets besorgt,
weil die vermehrte Productivität seines Geistes
gewöhnlich mit einer krankhaften Affection seiner
productiven Organe endigte. Diess war so
sehr in der Ordnung, dass mich schon im Anfange
meiner Bekanntschaft mit Goethe dessen
Sohn darauf aufmerksam machte, wie, so weit
seine Erinnerung reiche, sein Vater nach längerem
geistigen Produciren noch jedesmal eine
bedeutende Krankheit davon getragen habe.

Goethe's Phantasie blieb bis zum letzten
Moment empfänglich und wirksam. Das Schöne
und Heitere machte sein, das ganze Leben hindurch
mit unablässigem Streben entwickeltes,
eigenstes Element aus; ihn verstimmte alles
Hässliche und Düstere. "Es verdirbt mir die
Phantasie auf lange Zeit" pflegte er bei Ablehnung
solcher Gegenstände entschuldigend zu
äussern. Seinem Schönheitssinn Widerstrebendes
vermochte er nur dann aufmerksam ins
Auge zu fassen, wenn er davon für den in
ihm noch regeren Trieb zur Bereicherung seines
Wissens Befriedigung erwartete. Durch
sein Naturell gezwungen, sich in die ihm bekannt
werdenden Zustände Anderer lebhaft und
oft zu grossem, eignem Nachtheil zu versetzen,
strebte er vorsichtig und fortwährend, unerfreuliche
Nachrichten von sich abzuhalten.

Der zwei und achtzigjährige Greis erfreute
sich bis an seinen Tod eines nur selten gestörten
nächtlichen Schlafes. Gewöhnlich schlummerte
er den Tag über einigemal auf kurze
Zeit und dann Abends von neun Uhr an, ohne
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leicht vor fünf Uhr Morgens wieder munter zu
werden. Brütete sein Geist über sehr interessanten
Aufgaben, so erwachte Goethe in der
Nacht wohl auf eine oder zwei Stunden und
führte während der Zeit die Reihe seiner Ideen
weiter fort. Bei solcher Veranlassung nächtlichen
Wachens beklagte er sich nicht; wurde
aber seine Nachtruhe ohne ähnlichen Vortheil
unterbrochen, so machte ihn das sehr ungehalten,
und er verlangte am nächsten Morgen
Abhülfe. Meistens war Stuhlverstopfung die
Ursache, und eine geringe Dosis Rhabarbertinctur
stellte die Ordnung wieder her. Nur
selten verschrieb ich zu diesem Zwecke einen
Gran Bilsenkrautextract, ein Mittel, dem Goethe
sehr zugethan war, weil es ihn jedesmal
erquicklichen Schlaf mit ergötzlichen, im Gedächtniss
auch noch nach dem Erwachen zurückbleibenden
Träumen verschaffte.

In frühern Jahren trank Goethe viel Wein
und andere geistige Getränke. Als ich ihn kennen
lernte, war er in Genüssen dieser Art
schon sehr mässig, ja man könnte behaupten,
zu furchtsam. So versagte er sich z.B. ohne
alle Noth die Befriedigung eines, Abends um
6 Uhr, -- zu welcher Zeit er früher viele
Jahre hindurch im Theater stets Punsch getrunken
hatte, -- nicht selten wiederkehrenden,
manchmal sehr lebhaften Verlangens nach diesem
Getränk; so wagte er ferner aus ganz unbegründeter
Furcht in den allerletzten Jahren
nicht mehr, Champagner auch nur zu kosten,
obschon er denselben sehr liebte. Oft mit ihm
allein zu Tische, habe ich, -- was das Trinken
anbelangt, -- den Kampf zwischen Appetit
und Besorgniss ohne Ausnahme für die letztere
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siegreich ausfallen sehen, obgleich ich mich
selbst meistens mit auf die Seite des Appetits
schlug. Einen Tag, wie den andern, begnügte
sich Goethe bei dem Frühstück mit einem Glase
Madeira, und bei dem Mittagsessen mit einer
gewöhnlichen Flasche leichten Würzburger
Tischwein. Nur selten nahm er auch wohl
noch ein ganz kleines Gläschen Tinto di Rota
zum Nachtisch. Kaffee und zwar mit Milch
trank er nur zum Frühstück. Nach der Mahlzeit
genossen, verursachte ihm derselbe von
Jugend an Beängstigungen. Bier und andere
Getränke, dann und wann ein Glas Wasser
ausgenommen, habe ich Goethe, wenn er sich
wohl befand, in den letzten fühnf Jahren seines
Lebens niemals trinken sehen.

Einer gleichen Abstinenz befliss er sich
weder hinsichtlich der Auswahl noch hinsichtlich
der Menge der von ihm genossenen Speisen.
In der That ass Goethe sehr viel, und
selbst dann, wenn er sich über Mangel an
Appetit ernstlich beklagte, häufig doch noch
weit mehr, als andere, jüngere, gesunde Personen.
Er liebte vorzugsweise Fische, Fleisch,
Mehlspeisen, Kuchen und Süssigkeiten. Diätfehler
begangen zu haben, räumte er niemals
ein, wie häufig er sich derselben auch schuldig
machte. Seine Unenthaltsamkeit im Essen
bewirkte natürlich nicht gar selten Indigestionen.
Dem häufig überfüllten Unterleibe kam
man täglich durch Pillen aus Asa foetida, Rhabarber
und Jalappenseife und durch Klystiere
zu Hülfe; nach den Umständen wurden zuweilen
auch noch etliche Theelöffel weinige Rhabarbertinctur,
oder auch eine Portion Bittersalz
nothwendig. Jeden Druck auf den Unterleib
<<24>>
vermied Goethe sorgsam, und trug zu diesem
Ende nicht nur sehr weite Kleidungsstücke,
sondern er bediente sich stets eines, durch mehrere
Kissen erhöhten Sitzes, auf welchem er
mit rückwärts gebogenem Oberleibe Platz nehmen
konnte. Einen sehr grossen Theil des
Tages verbrachte er entweder im Zimmer umhergehend
und dann gewöhnlich dictirend, oder
er beschäftigte sich auf andere Weise im Stehen.

Merkwürdig war, -- neben der Richtigkeit
seines unter gesunden und krankhaften
Verhältnissen sehr feinen Instinkts, -- in wie
ungemein kleinen Gaben alle Mittel auf Goethe's
Organisation ihre gehörige Wirkung ausübten.
Ein Theelöffel voll Rhabarbertinctur
verursachte stets mit Sicherheit einen, auch
wohl zwei Stuhlgänge. Zwei Quentchen Bittersalz
führten immer schnell 6 -- 8 Mal ab.
Dabei wirkten alle Mittel auf seinen Organismus
wahrhaft paradigmatisch, so normal, wie
ich bei andern Individuen aus höhern Ständen
nur selten beobachtet habe. Deshalb, und weil
Goethe niemals Krankheitszustände darbot, welche
nicht einfache Arzneimittel jederzeit mit
grösster Bestimmtheit angezeigt hätten, war derselbe
meist leicht zu heilen. Und selbst in
der letzten tödtlich ausgelaufenen Krankheit
zeigte sich die Vortrefflichkeit seiner Organisation
in dem so sanften und natürlichen Sterben,
bei welchem die Kunst nur durch Abhaltung
äusserer Störungen des Auflösungsprozesses
wirksam zu werden brauchte.

Krankheit hielt Goethe für das grösste irdische
Uebel. Kranke durften auf sein thätiges
Mitleiden vorzugsweise mit Sicherheit rechnen.
Vor dem Tode hatte er eigentlich keine
<<25>>
Furcht, wohl aber vor einem quaalvollen Sterben.
Das Leben liebte er; -- und schmückte
es sich nicht für ihn mit allen seinen Reizen?

Schmerzen waren ihm unter allen körperlichen
Leiden am peinlichsten, nächst ihnen
afficirten ihn am mächtigsten entstellende
Uebel. Im Preisen der Schmerzlosigkeit wetteiferte
er mit Epikur, und häufig rühmte er
als ein gewiss von vielen beneidetes Glück,
dass er niemals an Zahn- oder Kopfweh gelitten
habe. Seine Zähne hatten sich bis in
das höchste Alter in gutem Zustande erhalten.

Wie sein Freund Schiller die Ausdünstungen
faulender Aepfel *), so liebte Goethe eingeschlossene
Zimmerluft. Nur mit grosser Mühe
konnte man ihn bewegen, ein Fenster öffnen
zu lassen, damit sich die Luft in seinem Schlaf-
und Arbeitszimmer erneuere. Gegen üble Gerüche
war er nicht besonders empfindlich, wohl
aber gegen die geringste Unordnung in dem
Arrangement seiner Stube. So war ihm z. B.
aufs Aeusserste zuwider, wenn ein Buch, eine
Lage Papier u. dergl. mit seinen Rändern den
benachbarten Rändern des Tisches nicht parallel
<<26>>
lag. Als eine wenig bekannte Eigenheit
Goethe's erwähne ich hier noch, dass ihm sehr
unangenehm war, wenn jemand in seiner Gegenwart
das Licht putzte. Niemand konnte
ihm diese Operation zu Danke machen.

Licht und Wärme waren für ihn die unentbehrlichsten
Lebensreize; bei hohem Barometerstande
befand er sich am wohlsten. Den
Winter detestirte er und behauptete oft scherzend,
man würde sich im Spätsommer aufhängen,
wenn man sich da von der Abscheulichkeit
des Winters eine rechte Vorstellung zu
machen im Stande wäre.

Während der sechs Jahre, da mir die
Fürsorge für Goethe's Gesundheit oblag, habe
ich denselben nur an zwei Krankheiten behandelt,
von welchen er nicht bereits in jüngern
Jahren und zum Theil zu öftern Malen heimgesucht
worden war. Diese zwei Uebel bestanden
in einem am rechten untern Augenlide
beginnenden, durch den mehrjährigen Gebrauch
einer feinen Zinksalbe immer in Schranken gehaltenen
Ectropium senile und in einer kirschkerngrossen
Wucherung mehrerer Schleimbälge
der Stirnhaut, entstanden in Folge des durch
einen fast fortwährend getragenen Augenschirm
von schlechter Beschaffenheit bewirkten Drucks.
Dieser Auswuchs war mir lange verborgen geblieben,
da ich Goethen meistens nur mit dem,
die Excrescenz verdeckenden Schirme sah.
Später war es mir nicht möglich, die Vertauschung
des untauglichen Schirmes mit einem
zweckmässigern durchzusetzen. Ich suchte deshalb
den Druck mittelst einer Leinwandcompresse
wenigstens zu verringern. Dabei und
bei der gleichzeitigen Anwendung von Mandelöl-Einreibungen
<<27>>
verlor sich die kleine, stets schmerzlose
Deformität in wenigen Wochen. Ausser
diesen beiden findet man alle, mir vorgekommenen
Krankheiten Goethe's von ihm selbst in
seiner Lebensbeschreibung mehr oder minder
ausführlich berücksichtigt. Auch ist dort ihr
Ursprung meistens deutlich nachgewiesen.
Indigestionen abgerechnet, litt Goethe am häufigsten
an Lungencatarrhen und an
Zapfenbräunen.

Goethe hatte in Folge seiner durchaus
produktiven Tendenz in jedem Lebensalter viel
Blut erzeugt. Früher war jedoch die Blutbereitung
mit der Blutconsumtion in einem ziemlich
günstigem Verhältnisse geblieben. In den
letztern Lebensjahren jedoch entstanden aus
beinahe gänzlichem Mangel an körperlicher Bewegung
bei fortwährend reichlich zuströmender
Nahrung Vollblütigkeiten, welche starke
künstliche Blutentleerungen, Aderlässe, von Zeit
zu Zeit dringend erheischten.

Wenn Goethe sich in den 6 letzten Jahren
seines Lebens auffallend viel gesünder befand,
als selbst eine kurze Zeit vorher, so rührte
diess zum grossen Theile gewiss mit daher,
dass es mir bald gelang, seinem unangemessnen,
eigenmächtigen Mediciniren ein Ende zu
machen. Ungeachtet vieler Einsicht in die
Wirkungsart der Heilmittel, konnte sich Goethe
doch immer nur sehr schwer entschliessen, von
dem Gebrauche eines seinem Gefühle besonders
wohlthätig gewesenen Medicamentes wieder
abzulassen. So war ihm z. B. der Kreuzbrunnen
einige Mal vortrefflich bekommen, und nun
trank er, noch als ich sein Arzt wurde, Jahr
<<28>>
aus, Jahr ein und Tag für Tag Kreuzbrunnen
und zwar jedes Jahr über 400 Flaschen.

Finden wir nicht auch oft genug Aerzte,
die den Wiedergebrauch eines Mittels, und
zwar vorzugsweise den Gebrauch der Mineralquellen,
bloss deshalb rathen, weil -- es dem
Kranken zu der und der Zeit schon einmal so
gut gethan habe? Wird nicht gar oft übersehen,
dass ein Mittel zuweilen gerade deshalb
nicht mehr angemessen ist, weil dasselbe eben
schon gut gethan hat?

Ueber seine Gesundheitsumstände sprach
sich Goethe gegen andere, als den Arzt, nicht
gern aus. Eine specielle Nachfrage nach seinem
Befinden, aus blosser Theilnahme, konnte
ihn, vornehmlich, wenn er sich wirklich in
dem Augenblick nicht ganz wohl fühlte, leicht
verdriesslich machen. Oft äusserte er launig,
es sei geradezu unverschämt, einen Menschen
zu fragen, wie er sich befinde, wenn man weder
die Macht, noch die Lust habe, ihm zu
helfen. Noch unerträglicher waren ihm die
gewöhnlichen Beileidsbezeigungen, zumal wenn
sie umständlich und jammerhaltig ausfielen.
"An eigner Angst und Sorge hat man in solchen
Fällen schon genug, dazu aber noch die
Wehklage zu dulden, ist mir wenigstens ganz
unmöglich," fuhr er dann wohl heraus, sobald
die ihn belästigende Person nicht mehr zugegen
war.

Die Heilkunst und ihre echten Jünger
schätzte Goethe ungemein hoch. Er liebte es,
medicinische Themata zum Gegenstand seiner
Unterhaltung zu wählen. In seinen Tagebüchern
findet man den Inhalt ihn besonders interessirender
<<29>>
medicinischer Unterredungen, die
ich mit ihm hatte, nicht selten angemerkt. Er
war ein sehr dankbarer und folgsamer Kranker.
Gern liess er sich in seinen Krankheiten,
den physiologischen Zusammenhang der Symptome
und den Heilplan auseinandersetzen. Diess
war auch bei seinen bedeutenden Einsichten in
die Gesetze der Organisation weder besonders
schwierig, noch übte es auf die Kur einen hemmenden
Einfluss. Die Prognose eigner Uebel
liess er unberührt, weil ihm einleuchtete, dass
Aufrichtigkeit in diesem Punkte vom Arzte nicht
immer füglich gewährt werden könne und dürfe,
Consultationen mehrerer Aerzte betrachtete er
mit misstrauischen Blicken und dachte darüber
ungefähr wie Molière.

Die Gabe, seine Empfindungen dem Arzte
zu beschreiben, hat wohl nicht leicht ein Kranker
in höherem Grade besessen, als Goethe.
Nur hinsichtlich eines einzigen Zustandes, kam
hierin eine beständige Ausnahme vor. War
nämlich die Gabe irgend eines sogenannten
Reizmittels etwas zu stark gegriffen worden,
-- wie das im Anfange meiner Bekanntschaft
mit ihm, ehe ich mich von seiner ganz
ungewöhnlichen Empfänglichkeit überzeugt hatte,
einige Mal geschah, -- so pflegte er die dadurch
erregte Empfindung mit den Worten zu
bezeichnen: "Es ist ein Stillstand in meinen
Functionen eingetreten." Er vermochte niemals
diesen Zustand deutlicher mitzutheilen.

Im Begriff zu schliessen, wüsste ich dem
Vorwurf des Ungenügenden der vorstehenden
Andeutungen nicht angemessener zu begegnen,
als mit eignen Worten dessen, den ich von
<<30>>
einer noch weniger bekannten Seite hier zu
schildern versuchte:

"Alles Bestreben, einen Gegenstand zu fassen,
verwirrt sich in der Entfernung vom Gegenstande
und macht, wenn man zur Klarheit
vorzudringen sucht, die Unzulänglichkeit der
Erinnerungen fühlbar."

-----

Nachschrift
von
C.W. Hufeland.

-----

Ich rechne es zu den grössten Vorzügen
meines Lebens und zu den schönsten Seiten
desselben, dass es mir vergönnt war, diesem
grossen Geiste, diesem Heros der teutschen
Geisterwelt eine lange Reihe von Jahren hindurch
persönlich nahe zu stehen und sie mit ihm zu
verleben, so dass ich ihn als einen wesentlichen
Bestandtheil meines eignen Lebens betrachten
kann. Als Knabe und Jüngling schon
sah ich ihn im Jahre 1776 in Weimar erscheinen
in voller Kraft und Blüthe der Jugend und
des anfangenden Mannesalters. Nie werde ich
den Eindruck vergessen, den er als Orestes im
griechischen Costüm in der Darstellung seiner
Iphigenia machte; man glaubte einen Apollo zu
sehen. Noch nie erblickte man eine solche
Vereinigung physischer und geistiger Vollkommenheit
und Schönheit in einem Manne, als
<<31>>
damals an Goethe. -- Unglaublich war der
mächtige Einfluss, den er damals auf gänzliche
Umgestaltung der kleinen Weimarschen Welt
hatte. -- Nachher hatte ich das Glück 10 Jahre
lang (von 1783 bis 1793) als Arzt und Freund
seines nähern Umganges zu geniessen. Zwar
gab er dem Arzte wenig zu thun, seine Gesundheit
war in der Regel, wenige vom Einfluss
der Atmosphäre herrührende rheumatische und
catarrhalische Beschwerden, und besonders die
schon damals vorhandene Disposition zu
catarrhalischer Angina abgerechnet, vortrefflich;
aber desto lieber unterhielt er sich mit dem
Arzte als Naturforscher, und so genoss ich bei
ihm manche Stunden der interessanten Mittheilung,
Belehrung, und geistiger Erweckung.

Was seine physische Natur betrifft, so
kann ich nur das, was der geistreiche Hr. Verfasser
dieser ihres Gegenstandes so würdigen
Schilderung gesagt hat, bekräftigen. Es ist
mir nie ein Mensch vorgekommen, welcher zu
gleicher Zeit körperlich und geistig in so hohem
Grade vom Himmel begabt gewesen wäre,
und auf diese Weise in der That das Bild des
vollkommensten Menschen darstellte. Aber nicht
bloss die Kraft war zu bewundern, die bei
ihm in so ausserordentlichem Grade Leib und
Seele erfüllte, sondern mehr noch das herrliche
Gleichgewicht, was sich sowohl über die
physischen als geistigen Funktionen ausbreitete,
und die schöne Eintracht, in welcher beides vereinigt
war, so dass keines, wie so oft geschieht,
auf Kosten des andern lebte, oder es störete.

Man kann mit Wahrheit sagen, dass dieses
hauptsächlich seinen Geist auszeichnete,
<<32>>
dass alle Geisteskräfte in gleich hohem Grade
und in der schönsten Harmonie vorhanden waren,
und dass selbst die bei ihm so lebendige, so
schöpferische, Phantasie durch die Herrschaft
des Verstandes gemässigt und gezügelt wurde.
Und eben diess gilt von dem Physischen; kein
System, keine Funktion hatte das Uebergewicht;
alle wirkten gleichsam zusammen zur
Erhaltung eines schönen Gleichgewichts. -- Aber
Produktivität war der Grundcharakter sowohl
im Geistigen als Physischen, und im letztern
zeigte sie sich durch eine reiche Nutrition, äusserst
schnelle und reichliche Sanguifikation und
Reproduktion, kritische Selbsthülfe bei Krankheiten
und eine Fülle von Blutleben. Daher
auch noch im hohen Alter die Blutkrisen und
das Bedürfniss des Aderlasses.

Solche Erfahrungen gehören zu den seltensten
Geschenken des Himmels. Es ist Freude
zu sehen, dass die Entstehung so vollkommner
Menschennatur auch noch in unsern Zeiten
möglich ist, die so manche für eine Periode
der Abnahme des Menschengeschlechts halten.

Er endete mit den Worten: "Mehr Licht"
-- Ihm ist es nun geworden. -- Wir wollen
es uns gesagt seyn lassen, als Nachruf, zur
Ermunterung und Belebung.

-----


[Fußnoten]




<<10Fn>>
*)
Goethe liebte seinen Sohn wirklich und schenkte
ihm fast unbegränztes Vertrauen; dieser widmete seinem
Vater die innigste Verehrung. Ich besitze davon
viele unzweideutige Beweise, was auch böser
Wille über das zwischen beiden bestandene Verhältniss
aussgestreut haben mag. Der Lungenblutsturz,
von welchem oben die Rede ist, war lediglich Folge
der ungeheuern Anstrengung, womit Goethe den
bohrenden Schmerz über den vorzeitigen Verlust des
einzigen Sohnes zu gewältigen strebte. So sollte
sich an ihm selbst bestätigen, was er, besorgt wegen
des Eindrucks, den die Nachricht von dem plötzlichen
Abscheiden seines fürstlichen Freundes, des
<<11Fn>>
Grossherzogs, Karl August, auf die hohe Wittwe
machen möchte, im Juni 1828 nach Wilhelmsthal
schrieb, wo ich mich damals mit dem Hofe aufhielt:

"Sie thun sehr wohl, länger in Eisenach zu
verweilen; denn in solchen Fällen sind die
Nachwirkungen immer zu fürchten. Der Charakter
widersetzt sich dem treffenden Schlage,
aber consolidirt dadurch gleichsam das Uebel,
das sich späterhin auf andere Weise Luft zu
machen sucht." --

Ich gedenke noch bei dieser Gelegenheit, wie Göthe
nach dem Tode seines Sohnes eines Tages mit hervorbrechendem
Unmuthe und deutlicher Beziehung
äusserte: "dass die Eltern vor den Kindern sterben,
ist in der Ordnung, unnatürlich aber ist, wenn der
Sohn vor dem Vater abgefordert wird."

<<18Fn>>
*)
Unter den käuflichen Abbildungen Goethes stellen
seine Gesichtszüge in den Jahren 1820 bis 1829
Rauch's meisterhafte Büste und das nach Stieler's
vortrefflichem Oelgemälde von Schreiner in München
lithographirte, in technischer Hinsicht jedoch nicht
durchaus wohlgerathene Portrait am treuesten dar.
Wer sich Goethe's Züge zu vergegenwärtigen wünscht,
wie sie in der letzten Zeit erschienen, dem ist das
in jeder Hinsicht äusserst gelungene, in Linienmanier
1832 gravirte und erst nach Goethes Tode beendigte
Bild von Schwerdgeburth zu empfehlen. Die Körperhaltung
Goethe's kann man am besten durch die
kleine Statue kennen lernen, welche wir gleichfalls
Rauch verdanken, und bei welcher nur die geringe
Aehnlichkeit des Antlitzes zu bedauern bleibt.


<<25Fn>>
*)
Ich habe diess von Goethe selbst. Eines Tages will
er Schiller besuchen, findet ihn nicht zu Hause und
setzt sich, in Erwartung von dessen Rückkehr an den
Schreibtisch. Da wird ihm zuerst ein eigner Geruch
lästig und bald befällt ihn Betäubung, welche sich
schnell bis zur Bewusstlosigkeit steigert und nicht
eher wieder verschwindet, bis man ihn an die freie
Luft gebracht hat. Als Ursache dieses Unwohlseyns
wird dann bald eine grosse Anzahl faulender Aepfel
entdeckt, die Schiller aus Wohlgefallen an der sich
aus ihnen entwickelnden Luft in den Fächern zu
beiden Seiten seines Arbeitstisches angehäuft hatte. --
Mir ist in meiner Praxis ein ähnlicher Fall von Betäubung
durch Aepfeldunst vorgekommen.