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Hermann Muthesius: Die Einheit der Architektur (1908)

Hermann Muthesius: Die Einheit der Architektur (1908)
-- Textgrundlage: Hermann Muthesius: Die Einheit der Architektur. Betrachtungen über Baukunst, Ingenieurbau und Kunstgewerbe. Vortrag, gehalten am 13. Februar 1908 im Verein für Kunst in Berlin. Berlin (Karl Curtius) 1908. 63. S.
-- Digitale Fassung: Thomas Gloning, 1/2002; [mail]
-- Einrichtung des Textes: Seiten- und zeilengetreue Einrichtung; Silbentrennung aufgehoben; <<1>> usw. = Seitenzahlen; -- Eingriffe: S. 35, Z. 11f. am Zeilenende: Gebie- und bet|stehenden > Gebiet, und bestehenden. -- [!] = so im Text. -- [] für einige wenige ergänzte Satzzeichen und Buchstaben.
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DIE EINHEIT DER
ARCHITEKTUR

BETRACHTUNGEN ÜBER BAUKUNST;
INGENIEURBAU UND KUNSTGEWERBE
von
HERMANN MUTHESIUS

VORTRAG; GEHALTEN AM 13. FEBRUAR 1908
IM VEREIN FÜR KUNST IN BERLIN

BERLIN :: KARL CURTIUS :: 1908

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Im Anfang war der Rhythmus. Dieser
Ausspruch des geistvollen musikalischen Denkers
Hans v. Bülow bezieht sich nicht allein oder
auch nur vorwiegend auf die Musik. Der
Rhythmus ist jeder menschlichen Tätigkeit
eigentümlich, er ist das erste Gesetz aller
Äußerungen unseres Selbst. Und er ist
noch deutlicher erkennbar im Jugendzustande
des Individuums, und in den primitiven Kulturen,
als in vorgerückteren Entwickelungsstadien.
Die Kinder lieben Reime. Die Sprache
der Naturvölker hat etwas ausgesprochen
Rhythmisches. Die frühen Literaturzeugnisse
der Völker haben rhythmische Folgen der
Satzglieder und selbst der Gedankenreihen --
es sei nur an den Parallelismus der Sprache
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des alten Testaments erinnert. In den
Gebärden prägt sich der Drang nach dem
Rhythmischen schon bei den Urvölkern als
Tanz aus. Auch alle gemeinsamen
Arbeitsverrichtungen geschehen bei ihnen im Takt
und von Gesang begleitet. Die Musik ist
die erste ganz abgeklärte, weil vom Realen
losgelöste rhythmische Betätigung. Ihre
Gesetzmäßigkeit erhebt sich bis zum
Mathematischen, denn sie bewegt sich in
strengstem Gleichmaß der Zeitfolgen und arbeitet
mit arithmetischen Verhältnissen der
Schwingungszahlen.

Auch das erste Schaffen der menschlichen
Hand war rhythmisch. Die ersten Ornamente,
die der Wilde auf seinen Waffengriff
ritzte, zeigten Gesetzmäßigkeit und eine
Reihung von gleichmäßigen Gliedern. Die
erste Furche, die der Ackerbautreibende zog,
die erste Einteilung seiner Felder war regel-
und gesetzmäßig. Die erste Hütte, die sich
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der seßhaft Gewordene baute, war auf
geometrischer Grundform errichtet. Schon in
den ersten Betätigungen des Feldbaues wie
des Wohnungsbaues stoßen wir so auf
die Grundgesetze der Architektur. Und in
weiterem Verlaufe entwickelten sich die
Bildungen der menschlichen Hand, seien sie
bodenkultivierend, handwerklich oder baulich,
mit nicht zu bezweifelnder Sicherheit
in der Richtung des Gesetzmäßigen, Logischen,
Rhythmischen. Sie entwickelten sich
in gerader Richtung nach dem Ziele derjenigen
Kunst hin, die wir in einem späteren
Zustande als Architektur bezeichnen. Wir
erkennen, daß das architektonische Gestalten
das natürliche menschliche Gestalten
ist, daß der Mensch gar nicht anders kann
als regelmäßig, rhythmisch, architektonisch
zu gestalten. Er tut es mit derselben
Notwendigkeit, mit der die Biene ihre Zelle
baut oder mit der der Kristall seine Glieder
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ansetzt. Somit ist die Architektur eins der
Grundprinzipien der sichtbaren menschlichen
Äußerung überhaupt.

Die Geschichte zeigt uns, nach welchen
verschiedenen Zielen und bis zu welchen
ungleichen Höhen sich die Architektur der
einzelnen Völker entfaltet hat. Aus den
ersten kindlichen Äußerungen sind erhabene
Bauwerke geworden. Im Dienste großer
Aufgaben ist das bauende Gestalten zu
Blütezuständen ausgereift, die schon in frühen
Kulturen unsere höchste Bewunderung
hervorrufen. Gleich den Gesängen Homers, die
in der Poesie hochaufragende Marksteine
sind, sehen wir in der egyptischen,
kleinasiatischen und griechischen Baukunst
bereits die Verkörperungen der höchsten
baulichen Fähigkeiten der Menschheit. Die
Baukunst wurde die Ausdrucksform für das letzte
Sehnen und die höchsten seelischen Affekte.
Und wie die seelischen Affekte gerade in den
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Jugendkulturen in monumentaler Form
auftraten, so sind auch die Bauten dieser
Jugendkulturen sogleich die monumentalsten und
erhabensten, die die Geschichte der Baukunst
aufzuweisen hat.

In der späteren Entwicklung findet eine
Differenzierung statt. Neue, verzweigte
Bedürfnisse fordern den baulichen Scharfsinn
heraus, neue technische Hilfsmittel reichen
ihre Hand, das konstruktive Können steigert
sich, die ausschmückende Neigung wächst.
Der Architekt erhält untergebene Mitarbeiter,
die bei der Ausführung seiner Gedanken
technische und künstlerische Hilfsdienste
leisten. So erblicken wir bereits in der
römischen Baukunst ein planmäßiges
Ineinandergreifen vielseitiger Arbeit. Die
Baukunst war das eigentliche Universalgebiet
der gestaltenden Betätigung des Menschen
geworden, ein Gebiet, in dessen Entwicklung
sich die Fortschritte der Technik in
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gleicher Weise wiederspiegelten wie die der
Kunst.

Der Universalität der baulichen Arbeit
entsprach das Gewicht der Aufgaben, die der
Architektur gesetzt waren. Denn sie diente
dazu, die großen Zeitideen, die nach
architektonischem Ausdruck drängten, in die
Wirklichkeit umzusetzen. Waren es in der
griechischen und egyptischen Baukunst
vorwiegend die religiösen Vorstellungen, die
ihren Ausdruck in der Architektur fanden,
so traten in der römischen Baukunst staatliche
und soziale Ziele in den Vordergrund.
Die Zirken, Thermen, Aquädukte und Basiliken
der Römer sind Bauwerke, die vom
soziologischen Standpunkte bereits ein
vollständig modernes Gepräge tragen. Nach
der Römerkunst machte das Christentum,
als Reaktion gegen die römische Verweltlichung,
den alten religiösen Grundgedanken
der Frühkulturen wieder zum Träger eines
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neuen Ausgangs im Bauwesen. Aus den
primitiven Kultstätten der Katakomben
entwickelten sich die mittelalterlichen Dome
zu erhabenen Monumenten religiöser
Sehnsucht und überweltlichen Empfindens. Sie
geben der europäischen Baukunst eines
Jahrtausends das Gepräge. Sie sind
zugleich die letzte reine architektonische
Verkörperung des stärksten und tiefsten
menschlichen Gefühlslebens, der Religion.

Mit dem Eintritt des Humanismus hatte
die Kirche ihre führende Stellung verloren.
Andere Ziele rückten in den Vordergrund.
Das Bildungsbedürfnis und der Drang nach
weltlicher Schönheit wurden jetzt der
Antrieb für alle geistigen Tätigkeiten. Und
wie in römischer Zeit, so tauchten jetzt
wieder Aufgaben sozialer und persönlicher
Natur auf, die auch den baulichen
Äußerungen ein anderes Gepräge geben mußten.
Der Sinn der Zeit richtete sich dabei rückwärts,
<<10>>
auf die antike und besonders auf
die römische Kultur, in der sich in, der Tat
die nächsten Parallelen für ihre Ziele fanden.
Aber in diesem Rückwärtsrichten ist zugleich
auch begründet, daß die Baukunst der
Renaissance etwas Epigonenhaftes annahm.
Sie war keine Originalkunst mehr, sie hatte
einen hemmenden Einschlag, die
Nachempfindung, gepaart mit einer blinden
Überschätzung des Äußerlich-Formalen.

Das wichtigste Ereignis in den nachkirchlichen
Jahrhunderten ist das Erstarken
der absolutistischen Fürstenmacht. Und in
dieser Fürstenmacht fand sich auch die
hervorragendste Anregung für das
architektonische Gestalten. Der Höhepunkt der
Architektur dieser Zeit liegt in den
Königsschlössern. In ihnen wurde die
Schöpferkraft selbst dieser Epigonenzeit noch
einmal herausgefordert zu Meisterwerken, die
sich den besten Leistungen früherer
<<11>>
Kulturperioden beinahe an die Seite stellen konnten.
Aus der Vielgestaltigkeit des fürstlichen
Wohnbedürfnisses, gepaart mit dem der
Fürstenkultur eigentümlichen Repräsentationsdrange,
erwuchsen hier Aufgaben, die
namentlich die Innenarchitektur auf eine
ganz neue Basis stellten. Und wie vom
16. Jahrhundert an der französische Königshof
führend für den ganzen westlichen Kulturkreis
wurde, so hat auch die französische
Innenkunst seitdem die Führerrolle erhalten
und sie beinahe unangezweifelt bis auf den
heutigen Tag behauptet.

Das 18. Jahrhundert mit seinen aufklärenden,
auf allen Geistesgebieten revolutionär
wirkenden Tendenzen rüttelte zum
ersten Male an dieser Fürstenkultur. Der
dritte Stand gelangte zur Bedeutung. Neue
Bildungsquellen stärkten sein Selbstvertrauen.
Die konkrete Forschung gab dem menschlichen
Geiste Waffen in die Hand, die die
<<12>>
Naturkräfte zu bändigen und dem Menschen
dienstbar zu machen begannen. Der kühne
Forscherdrang trat seinen Siegeszug an. Die
französische Revolution besiegelte die Überwindung
der absolutistischen Herrschergewalt
durch den aufgeklärten Bürgersinn.
Und indem sie einem neuen tätigen bürgerlichen
Leben die Schleusen öffnete, bezeichnet
sie den Beginn einer vollkommen neuen Zeit
mit neuen Lebenszielen, mit einer neuen
Weltanschauung, mit neuen sozialen Aufgaben.

Auf fast allen Gebieten der menschlichen
Betätigung, in der sozialen Entwicklung und
im Wirtschaftsleben beginnen mit dieser
neuen Zeit neue Ausgänge. Überall gährt
es. Alte Formen gehen unter und neue
treten an ihre Stelle. Ganz neue Zweige
der Wissenschaft entstehen, ganz neue
Wirtschaftsorganisationen bilden sich heraus, eine
ganz neue Gesellschaftsschicht tritt an die
Oberfläche. Wohl niemals hat eine Kultur
<<13>>
eine gleich einschneidende innere Revolution
erlebt als die mitteleuropäische an der Wende
des 18. Jahrhunderts.

Die sich vollziehenden Umwandtungen
kündigten sich, wie das in jeder Revolution
der Fall ist, zunächst in einer Auflösung
der bestehenden Ordnung an. In Frankreich
wurde die Vorherrschaft der Aristokratie
gebrochen und damit auch zugleich
die eigentliche Trägerin und Repräsentantin
der Kultur der Zeit zu Fall gebracht. In der
Malerei verschwand die alte, seit der Renaissance
begründete Tradition, die noch in der
Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts ihren
letzten Glanz hatte scheinen lassen, und
wich einer eklektischen, unter dem Einfluß
der neuentdeckten antiken Kunst stehenden
Verstandesmalerei. In der Philosophie und
den Wissenschaften faßte langsam die Empirik
Fuß und verdrängte allmählich die alte
abstrakte Spekulation. In der Organisation
<<14>>
der handwerklichen Arbeit begann das alte
Gefüge der Zünfte zu krachen und eine neue,
weitere Gebiete umfassende Versorgung mit
Zuhilfenahme der Maschine fing an, dem
Handwerk den Boden abzugraben. Die
patriarchalischen Verhältnisse der Stände
zueinander hielten den aufkeimenden
Freiheitsbestrebungen nicht mehr stand, diese
durchsetzten die Köpfe zunächst mit
ungeklärten politischen Ideen. Kurz, überall
beobachten wir den Abbruch des alten
Kulturgebäudes, an dem die ganze Zeit
aufs eifrigste tätig war. Und so konnte
Carlyle 1831 zwar schreiben "der Untergang
des Alten ist verkündet und unwiderruflich",
aber er mußte sofort hinzufügen: "das Neue
jedoch erscheint noch nicht an seiner Statt.
Unsere Zeit liegt noch in den Geburtswehen
um das Neue".

Eine so revolutionäre Zeit mußte auch auf
das architektonische Gestalten ihre Schatten
<<15>>
werfen. Die Tradition der Renaissancebaukunst
erfuhr aus zwei Richtungen Anstöße. Mit
der neuen Erkenntnis der klassischen Schönheit,
die die Entdeckung der antiken Überreste
in Herculanum, Pompeji, Baalbeck und
Athen übermittelten, lenkte sie in eine wörtliche
Übertragung antiker Monumentalformen
ein, die die nicht ohne Mühe gewonnene
Selbständigkeit wieder in Frage stellte. Mit
Hintansetzung alles dessen, was die aristokratische
Kultur im Außen- und Innenbau des
fürstlichen Schlosses neu geschaffen hatte,
fing sie die Entwicklung gleichsam wieder
von vorn an. Allerdings war der geschulte
architektonische Sinn noch lebendig. Er
brachte es mit sich, daß auch die Schöpfungen
dieser Neuklassizisten noch ein hohes Maß
von Haltung verkörperten. In Deutschland
waren die Werke Schinkels in dieser Beziehung
die letzten Zeugen eines nach hohen
Idealen ringenden baulichen Strebens.

<<16>>

Die andere Richtung, aus der die
Baukunst beeinflußt zu werden begann, war
die eines langsam wieder erwachenden
nordischen Kunstempfindens, das eine
Gegensatzstellung zu den aus dem Süden
kommenden und auf der Antike fußenden
Kunstbestrebungen der Renaissance-Jahrhunderte
einnahm. Die Quelle dieses neuen Denkens
war der Romantizismus, dessen Urheimat das
alte romantische Land Schottland war. Die
Oden Ossians, die die Welt in Spannung
hielten und auch in den Köpfen der deutschen
Dichterschule ihren Widerhall fanden, waren
der erste Schlachtruf neuer Schönheitsbegriffe.
In England faßten die romantischen
Ideen auch in der Architektur zuerst Fuß.
Sie nisteten sich mit besonderer Eile auf
dem Gebiete ein, an das der architektonische
Gedanke naturgemäß am losesten geknüpft
war: in der Gartenkunst. Denn hier bedeutete
das Rhythmische, wie es sich in der
<<17>>
architektonischen Gestaltung des Gartens
ausspricht, einen sichtbaren Zwang, eine
nachweisbare Beschränkung des wilden
Wachstums der Pflanze. Man sprengte den Zwang,
um dem Natürlichen, wie man es nannte,
freien Lauf zu lassen. So wurde in
England im Laufe des 18. Jahrhunderts in
tausenden von Landsitzen die regelmäßige
Gartenanlage zerstört und malerische
Naturszenerien an deren Stelle gesetzt. Der
geschlungene Wiesenpfad wurde das Vorbild
für den Gartenweg, der vor- und
zurückspringende Waldessaum für die Bepflanzung,
die Felsenpartie, der Geländeeinschnitt und
der Weiher für die Bodengestaltung. Bald
gelangten auch in der Gebäudearchitektur
die romantischen Ideen zum Durchbruch.
Eklektisch wie die Zeit war, glaubte man
das Rechte zu tun, indem man die äußeren
Gestaltungsformen der Gotik imitierte. Man
hielt Spitzbogen, Zinnen, Fialen für das <<18>>
Wesentliche der romantischen Baukunst und
setzte sie äußerlich vor die Gebäudewände.

So zog die Architektur, in zwei Lager
gespalten, die sich feindlich bekämpften, in
das 19. Jahrhundert ein. Hie Gotik, hie
Antike blieb das Kampfwort der Architekten
für beinahe das ganze Jahrhundert. Der
Kampf drehte sich um Äußerlichkeiten,
und diese standen so sehr im Vordergrunde,
daß das innere Wesen des baulichen
Gestaltens mehr und mehr verdunkelt
wurde. Der Stilgesichtspunkt wurde der
alleinherrschende. Dabei schien das Zutrauen auf
das eigene Können völlig entschwunden,
es gehörte zu der festen Überzeugung
dieser Zeit, daß das Heil der Architektur
allein in der Nachahmung der Äußerungsformen
früherer Kulturen liegen könne. Niemand
glaubte sich anders bewegen zu
können, als auf den Krücken der alten
Kunst. Und in der Tat gaben diese Krücken
<<19>>
noch die einzige Möglichkeit, ein
erträgliches Gehen zu ermöglichen, denn der
sieche Körper vermochte sich allein kaum
mehr aufrecht zu erhalten. Das war die
Architektur, die im 19. Jahrhundert in dem
alten Bett der Berufsausübung des
Architekten weiterlief.

Es war die Architektur als Kunst, nach
der Anschauung, die in dieser Zeit allgemein
obwaltete. Diese Architektur als Kunst
erschöpfte jedoch das bauliche Gestalten der
Zeit keineswegs. Denn die Zeit hatte abseits
der Architektur ganz neue und bisher
unbekannte Aufgaben gestellt, Aufgaben, die
infolge des ungemein erweiterten Verkehrs
und der sich rasch entwickelnden technischen
Wissenschaften entstanden waren
und die die tätigsten Geister der Zeit in die
Schranken forderten. Es waren die Aufgaben
des Ingenieurs. Das Eisen war sein
neuer Konstruktionsstoff, bald ergänzt durch
<<20>>
andre bisher ungekannte Materialien, wie Glas
und jenes neue Bindemittel Zement, das später
in Verbindung mit Kies und Eisen als
sogenannter Eisenbeton die gesammte
Baukonstruktion zu revolutionieren begann. Die
Eisenbahnen, die Brücken, die Dampfschiffe,
die Maschinen waren das Betätigungsfeld des
Ingenieurs. Ein rasch pulsierendes Leben
entwickelte sich auf diesen Gebieten. Die
Zeit konnte kaum Hilfskräfte genug stellen,
um das Nötigste zu leisten. Die wissenschaftliche
Forschung, die sich in ganz neu
erschlossenen Gebieten, der Mathematik,
Statik und Dynamik äußerte, machte
unglaubliche Fortschritte und setzte die
Mitlebenden durch technische Erfindungen von
ungeahnter Tragweite in Erstaunen. Wunderwerke
an Kühnheit und Kraft, weitgespannte
Brücken über Ströme und Meeresarme
überboten die kühnsten Konstruktionen der
mittelalterlichen Dome und der antiken Thermen.

<<21>>

Und wie ins Große, so drang der
konstruktive Geist der Zeit ins Kleine. Für die
Ausbeutung der Elektrizität, für die Fortschritte
der Optik und Akustik im Dienste
der mannigfachen neuen wissenschaftlichen
und technischen Forschungen mußten die
kompliziertesten und minutiösesten Apparate
und Instrumente ersonnen werden. In der
Richtung aufs Große wie aufs Kleine gab
der gestaltenden Hand die Wissenschaft und
Technik die Richtschnur.

So hatte auch das 19. Jahrhundert seine
Eigenart auf baulichem Gebiete. Und es war
eine Eigenart, die mit dem forschenden und
kühn unternehmenden Geiste der Zeit in
engster Beziehung stand. Es war eine Eigenart,
die diesen Geist vielleicht in derselben
Weise verkörperte, wie die gotischen Dome
das mystisch-religiöse Empfinden des Mittelalters
und wie die Thermen und Basiliken die
staatsmännisch-sozialen Ziele der Römer
<<22>>
verkörperten. Aber eins ist merkwürdig und
wird der späteren Forschung unerklärlich
erscheinen: daß niemand daran dachte, diese
rein auf dem Boden der Zeit stehenden Bauwerke
der Architektur zuzuzählen. Die Architektur
war eine zimperliche, auf ihre Ahnenreihe
stolze, wenngleich verarmte Aristokratin
geworden, die weit davon entfernt war, die
neuen Emporkömmlinge anzuerkennen. Die
in hohem Maße nützlichen, ja unentbehrlichen
Kinder der Ingenieurwissenschaft
galten ihr als unschön, und sie hatte für
sie aus der Illusion ihres vorherrschenden
Wertes heraus kaum mehr als ein mitleidiges
Lächeln. Der konstruierende Ingenieur selbst
teilte halb die Ansicht, daß seine Bauten
zwar nützlich, aber nicht schön seien. Er
rief in allen Fällen, wo nach der alten
Gewohnheit die Schönheit in Frage kam, die
Hilfe seines Halbbruders, des Architekten an,
der seine Brückeneingänge, seine Bahnhofshallen
<<23>>
und das Innere seiner Dampfer mit sogenannter
Kunst, das heißt mit historischen
Architekturformen, behing. Und noch heute
treibt in den Kreisen der Architekten und
Ingenieure das Vorurteil sein Unwesen, daß
es der Anbringung von historischen
Architekturmotiven bedürfe, um Ingenieurwerke
"ästhetisch auszubilden". Vor schlanke
Eisenbrücken werden turmbekrönte Ritterburgtore
gesetzt, und die Disharmonie dieser heterogenen
Bestandteile vermag noch nicht das
Widersinnige zu enthüllen, das in einer
solchen Zusammenstellung liegt.

In keiner früheren Zeit wäre es denkbar
gewesen, einen solchen Rangunterschied
zwischen den verschiedenen Zweigen des
baulichen Gestaltens aufzustellen. Die alten
Architekten bauten Paläste, Brücken und
Festungen mit gleicher Liebe; Lionardo da
Vinci war zugleich universaler Künstler und
kühn erfindender Ingenieur. Allerdings war
<<24>>
in jenen Zeiten auch die ästhetische Spekulation
noch nicht entwickelt, die das Wesen
der sogenannten Kunst zu bestimmen und
zu begrenzen sucht. Man bildete schlecht
und recht, ohne sich weitere Gedanken zu
machen. Seitdem die ästhetische Reflexion
über die Menschheit gekommen ist, seitdem
hunderte von Köpfen dem fruchtlosen
Bemühen ergeben sind, die Grenze des
sogenannten Künstlerischen festzustellen,
seitdem scheint der Verwirrung gerade in der
Baukunst kein Ende gesetzt. Probleme über
Probleme werden ersonnen, jeweilig bejubelt
und nach je zwanzig Jahren als unzutreffend
oder nicht erschöpfend wieder verlassen.
Die Baukunst ist dabei naturgemäß stets
das strittigste Gebiet. Ästheten, in deren
Definition sie nicht paßte, haben sie
schlankweg als nicht zur "Kunst" gehörend
erklärt. Andere haben versucht festzustellen,
von wo an sie Kunst sei und von wo an
<<25>>
nicht. Dabei ist meist angenommen worden,
daß ein Bauwerk erst anfange ein Kunstwerk
zu werden, wenn es mehr tue, als
dem bloßen Bedürfnis zu genügen. Die
Anwendung auf die praktische Architektur
war nicht immer erfreulich. Denn dieses
"Mehr" bestand nicht selten in geschmacklosen
Überladungen und zurückstoßenden
Unnatürlichkeiten. So sehr sind wir in
letzter Zeit davon in Schrecken versetzt
worden, daß uns heute vielfach die Werke,
welche nichts tun, als das blanke Bedürfnis
befriedigen, als eine wahre Erlösung
gegenüber jenen "Architekturwerken"
erscheinen. Zweckmäßigkeit erschien dann
als die Richtschnur des tektonischen Bildens.
Doch wurde auch bald diese Richtschnur
wieder verworfen und das "Bilden für das
Auge" als das richtige Prinzip hingestellt.
So sind die Aussagen der Ästhetik vielgestaltig
gewesen und wir kommen dazu, jene
<<26>>
alten Baumeister zu beneiden, die lediglich
ihrem guten menschlichen Instinkte folgten.
Sie empfanden architektonisch und nach
unserer heutigen Anschauung "künstlerisch",
ohne den Versuch gemacht zu haben, sich
des Wesens des Künstlerischen bewußt
zu werden. Wenn wir sie beobachten, so
merken wir eben wieder, daß der naive
Mensch von selbst künstlerisch, d.h. nach
Schönheitsrücksichten bildet, daß er im
besondern, wenn er baut, gar nicht anders als
architektonisch bauen kann, d.h. rhythmisch,
fürs Auge und nach dem Problem
der Form. Wer auch bildet, unterliegt
diesem, dem menschlichen Geiste
immanenten Gesetz, gleichgültig, ob er sich
Architekt, Ingenieur oder Kunstgewerbler
nennt. Der künstlerische Wert seiner
Bildungen stuft sich indessen ab je nach
seiner besondern Veranlagung für
Schönheitswerte, d. h. nach seinem
<<27>>
Geschmacksniveau, seiner Phantasie und seiner
Gestaltungsfähigkeit.

Aus der Tatsache, daß die Bauten des
Ingenieurs nach der heutigen Ansicht noch
nicht zu den Werken der Architektur
gerechnet werden, lassen sich zwei Schlüsse
ziehen. Einmal ist der Begriff der Architektur
in der zünftigen Auffassung in einer unzulässigen
Weise eingeengt worden, und zwar in
Verbindung mit der schon erwähnten
Lebenshemmung in ihrer Entwicklung selbst.
Architektur war zur Stilübung herabgesunken; wo
die Merkmale eines der historisch anerkannten
Stile fehlten, vermeinte man die Zugehörigkeit
zur Architektur leugnen zu müssen. Das
frisch pulsierende Leben, das nach neuen
Gestaltungsmöglichkeiten drängt und über
die Grenze der zunftmäßigen Betätigung
hinaustritt, wurde nicht hereingelassen. Statt
des inneren Erfassens des architektonischen
Problems war eine äußerliche Formulierung
<<28>>
eingetreten. Der Geist war entflohen, die
Formel war geblieben.

Auf der andern Seite aber liegt gewiß auch
im Wesen der Ingenieurbauten ein Grund
dafür, daß die von der Architektur als
Kunst zu erwartenden Wirkungen auf das
Empfinden der Menschen zunächst noch
ausblieben. Es ist, wenn von der Hochburg
der gewohnt-architektonischen Betrachtungsweise
aus die Ingenieurbauten kritisiert worden
sind, häufig, ja mit besonderer Vorliebe
hervorgehoben worden, daß die Linien und
Formen des Ingenieurs reine Rechnungsergebnisse,
bar aller Empfindung seien. Und
im besondern ist von Eisenkonstruktionen
bis zum Überdruß der Satz verfochten worden,
daß es ihnen an Körperlichkeit mangle,
um überhaupt künstlerisch wirken zu können.
Beide Einwürfe scheinen für den ersten
Augenblick nicht der Berechtigung zu entbehren.
Aber es ist, wenn man sie untersucht, vor allem
<<29>>
festzuhalten, daß ihre Begründung fast ganz
allein in unserer augenblicklichen Gewöhnung
ruht. Die Kunst und ganz besonders die
Baukunst rechnet in erster Linie mit Konventionen.
Wir schätzen und lieben das, was
wir kennen. Formen, in denen wir unbewandert
sind, sprechen uns nicht an und
vermögen auch unser sogenanntes ästhetisches
Empfinden nicht zu erwecken. Man
braucht zur Illustrierung nur daran zu
erinnern, daß wir vor dem [!] außerordentlich
reichen und bis ins Minutiöse differenzierten
Baudenkmälern Südindiens ratlos
stehen. Wir wissen nicht, was wir mit
ihnen anfangen sollen und schelten sie
überladen und häßlich, während das Volk,
das sie errichtete, in ihnen einen Gipfel
der Schönheit sah. Dagegen vermögen
wir anderseits in den uns gewohnten
Formen die feinsten Unterschiede zu erkennen.
In der französischen Innenkunst des 18.
<<30>>
Jahrhunderts empfinden wir jede kleinste Feinheit,
wir messen den Unterscheidungsmerkmalen
der Stile Régence, Louis XV., Louis XVI.,
Directoire und Empire eine einschneidende
Bedeutung bei.

Etwas ganz Neues neben der altgewohnten,
im engeren Sinne architektonischen
Ausdrucksweise unserer Zeit war nun aber die
Ausdrucksweise des Ingenieurs. Sie ging
von ganz anderen Absichten und Vorstellungen
aus wie die des Architekten. Es lag
ihr ganz fern, an das historische
Erinnerungsvermögen, wie es die architektonische
Stilentwicklung großgezogen hatte und mit dem
die Architektur heute noch zum Teil ihre
Wirkung erzielt, zu appellieren. Sie wollte
auch in der Tat nur rechnerisch gefundene,
knappste Konstruktionsformen in die
Wirklichkeit umsetzen. Dies alles zugegeben,
würde man aber trotzdem fehlgehen, wenn
man auf der einen Seite behaupten wollte,
<<31>>
in diesen Bauten sei kein künstlerisches
Empfinden niedergelegt (dieses ist im Menschen
stets und unter allen Umständen tätig,
sei er sich dessen bewußt oder nicht) und
wenn man anderseits der Ausdrucksweise des
Ingenieurs jede höhere Wirkung absprechen
wollte. Eben diese knappste Ausdrucksform
des konstruktiv Richtigen macht einen
bestimmten Eindruck auf den empfänglichen
Beschauer. Es gehört nur dazu, daß der
Beschauer eben empfänglich sei. Und derjenige
Beschauer ist empfänglich, dessen statisches
Gefühl entwickelt ist. Für ihn spricht die
Konstruktionsform eines aus Stabwerk
zusammengesetzten Auslegers eine beredte
Sprache. Die kühne Schwingung einer
weitgespannten Eisenbahnbrücke übermittelt
ihm durch ihre raffinierte Verwirklichung
eines statischen Prinzips einen Genuß.
Vorausgesetzt, daß das statische
Vorstellungsmaterial im Beschauer vorhanden ist,
<<32>>
wird dieser auch Ingenieurbauten nicht nur
verstehen, sondern auch genießen. Dieses
statische Vorstellungsmaterial aber hat unsere
Zeit in den Köpfen der Mitlebenden eben
erst zu entwickeln begonnen. Der Ingenieur
ist der kühne Schöpfer und Erfinder dieser
neuen Vorstellungsideen. Die Mitlebenden
assimilieren sie allmählich. Noch ist dieser
Assimilierungsprozeß in den ersten Anfängen
begriffen; noch stehen die meisten Menschen
kühl und anteillos vor diesen feinen
Geistesprodukten einer kühn vorwärtsstrebenden
Gestaltungskunst, aber unbemerkt dringt
das Verständnis vor, und die Zeit wird nicht
fern sein, wo es allgemein werden wird, wo
sich neue Konventionen bilden werden auf
der Basis der Ausdrucksformen der Ingenieurkunst.
Der Mangel an Körperlichkeit wird
dann den Eisenkonstruktionen nicht mehr
zum Vorwurf gemacht werden; man wird
sich an diesen Mangel an Körperlichkeit
<<33>>
gewöhnt haben, und man wird gerade in
dieser, die Materie überwindenden Schlankheit
und Durchsichtigkeit ein neues künstlerisches
Moment erkennen, dem man einen
besonderen Wert beimessen wird. Nur die
Gewohnheit war es, die uns bisher behaupten
ließ, der Mangel an Körperlichkeit wirke
unschön. Der menschliche Geist kann nicht
ausschließlich auf Stein- und Holzformen
eingestellt sein. Ließe sich der Fall denken,
daß dem Menschen Stein und Holz als
Baumaterial versagt gewesen wären und daß
er nur Eisen vorgefunden hätte, so würde
er sicherlich Schönheitskonventionen in den
feingliedrigen Eisenkonstruktionen geschaffen
haben, die ihm vielleicht dann als die
einzig schönen erschienen, und von denen
aus er die Formen der Holz- und
Steinkonstruktionen als plump, massig und
ungefüge empfinden würde.

So ist aus den praktischen Erfordernissen
<<34>>
des modernen Lebens heraus ein neuer Beitrag
zur Architektur entstanden, ein Beitrag,
der freilich in seiner Bedeutung noch wenig
gewürdigt wird. Noch herrschen in der
allgemeinen Anschauung die Begriffe der
schulmäßigen Stilarchidektur. [!] Noch kümmert sich
das Publikum, wenn es von Architektur redet,
fast lediglich um die Äußerlichkeiten der
sogenannten historischen Stile. Und doch ist
heute bereits neben dieser anerkannten und
von der Kunstwissenschaft registrierten Architektur
in der gleichsam wild aufgewachsenen
Kunst des Ingenieurs bei weitem das
wichtigste Zuwachsglied der Architektur der
Neuzeit vorhanden.

Aber auch innerhalb des wohlgepflegten
Gartens der anerkannten Architektur ist den
architektonischen Ausdrucksformen ein
Zuwachs geworden. Er kam aus einer
Bewegung heraus, die geradeso wie der
Ingenieurbau ein Kind des 19. Jahrhunderts
<<35>>
ist, aber aus ganz anderen Ursachen
entsprang. Früher als in der Architektur wurde
auf dem kleinen Sondergebiete der gewerblichen
Produktion die Blutleere der letzten
Entwicklung erkannt. Die Einsicht, daß die
Produkte des Handwerks und der Industrie
auf einen Tiefstand gesunken seien, war ein
Ergebnis der ersten großen Weltausstellung
1851 in London. Reformvorschläge und
Besserungsbestrebungen knüpften sich unmittelbar
an diese Ausstellung. Ein neues Gebiet[,]
das Kunstgewerbe, wurde neben den
bestehenden anderen Kunstgebieten unsrerZeit
begründet. Es hat sich das Interesse weitester
Kreise zu erringen vermocht, ja es ist eine Art
Lieblingsgebiet unserer Zeit geworden. Hatte
sich das große Publikum längst entwöhnt[,]
an der Architektur irgendwelchen Antei[l]
zu nehmen (es sah in der Architektur
eine Art Spezialwissenschaft, die lediglich
die Fachkreise anging), so schien ihm das
<<36>>
Kunstgewerbe viel näher zu liegen, vielleicht
deshalb, weil es sich hier um kleine Gebrauchsdinge
handelte, mit denen es im Haus, in der
Wohnungseinrichtung, für Geschenke usw.
täglich zu tun hatte. Zur Zeit, als noch niemand
daran dachte, daß eine Reformation der
Architektur nötig sei, erfreute sich die
beabsichtigte Reformation des Gewerbes
allgemeinsten Anteils. Kunstgewerbemuseen
entstanden allerorten und übten fast noch mehr
Anziehungskraft aus als die Museen für
Gemälde und Skulpturen. In allen Städten
sproßten Kunstgewerbeschulen hervor und
wurden von jung und alt, von Schülern,
die aus allen möglichen Kreisen kamen,
besucht. Kunstgewerbevereine wurden bis in
die kleinsten Städte gegründet und vereinigten
in sich nicht nur Gewerbetreibende, sondern
auch große Gruppen von solchen, die sich
als Liebhaber für die gewerblichen Künste
interessierten.

<<37>>

In dieser kunstgewerblichen Bewegung
äußerte sich ein dunkler, noch unbewußter
Drang nach besseren architektonischen
Zuständen. Vielleicht mußte der Sinn erst
wieder am Kleinen erzogen werden, da er
die große Architektur nicht mehr zu fassen
imstande war.

Die Geschichte der kunstgewerblichen
Bewegung ist jetzt etwa ein halbes
Jahrhundert alt. Die Bewegung ist anders in
England als in Deutschland verlaufen, sie
ist in England früher in die richtigen
Kanäle gelangt als in Deutschland. In beiden
Ländern fing das Kunstgewerbe aber damit
an, die alten Handwerkserzeugnisse, die vom
Standpunkte der Gegenwart eine unantastbare
Vollkommenheit zeigten, als Muster
und Vorbilder anzusehen und sie möglichst
getreulich nachzuahmen. "Unserer Väter
Werke" wurde ein Kosewort für die
Handwerkserzeugnisse früherer Jahrhunderte, die
<<38>>
in raschem Wachstum unsere Kunstgewerbemuseen
zu füllen begannen. Es diesen alten
Handwerkserzeugnissen wieder gleich zu
tun, war das Ziel, dem in den ersten
Jahrzehnten des Kunstgewerbes alle
Beteiligten nachstrebten. Das Ziel ist in der
Tat auf den meisten Handwerksgebieten auch
wieder erreicht worden. In England war es
von 1860 an der große Reformator William
Morris, der alle alten Handwerke wieder
persönlich erlernte und sich wieder in den
Besitz der alten Handwerkstechniken setzte.
In Deutschland sind die siebziger und
achtziger Jahre erfüllt von dem gleichen
Bestreben. Die alte wundervolle Schmiedetechnik,
die Technik der Glasmalerei, der
Gold- und Silberschmiedekunst, des Metalltreibens,
des Emaillierens, desTeppichwebens
erstanden zu neuer Blüte. Und rein äußerlich
betrachtet konnte man allerdings sagen,
daß der alte Apparat der goldnen
<<39>>
Handwerkszeit wieder zurückerobert worden sei.
Allein damit war doch nur die allererste
Staffel eines Neuaufbaus erreicht Ein kräftiges
Gegenwartsleben kann sich nicht damit
zufrieden geben, das Alte zu repetieren,
sondern drängt nach der Lösung seiner
neuen Aufgaben. Zu einer solchen reichte
aber der alte Apparat schon deshalb nicht
aus, weil sich inzwischen die wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse sowie die
gesamte Lebensweise und Lebensauffassung
der Menschen von Grund auf verändert
hatten und neue Aufgaben nicht mit alten
Mitteln gelöst werden können. Und dann
war mit dem engen Teilgebiet des
Kunstgewerbes überhaupt noch wenig getan.
Sollte im Großen gewirkt werden, so konnte
es sich nur um das Gebiet des gesamten
gewerblichen und bauenden Gestaltens
überhaupt handeln, und das ist die
Architektur.

<<40>>

In England wurde der Schritt wenigstens
zu einem Teilgebiet der Architektur
getan, für das dort das allerregste
Volksinteresse vorhanden war: es war die
häusliche Baukunst. Sie wurde bald eine
ebensolche Tagesfrage wie das Kunstgewerbe
selbst. Denn in England gehörte es stets
zu jedermanns Wünschen, sein eignes Haus
zu bewohnen. In Deutschland, wo die große
Masse selbst der gebildeten Stände mit der
Mietwohnung vorlieb nahm, die ihm wie
ein Fabrikprodukt von Unternehmern
geliefert wurde, blieb das architektonische
Problem in der kunstgewerblichen
Bewegung für Jahrzehnte unentdeckt. Das Ziel
blieb kleiner und die Leistungen dementsprechend
einseitiger. Auch der Selbständigkeitstrieb
blieb unterbunden, eben weil
die weiter ausgreifenden Aufgaben fehlten.
Diese Vermählung der kunstgewerblichen
Bewegung mit der Hausbaukunst fand in
<<41>>
England bereits in den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts statt. Von da an ist
die Bewegung dort eine architektonische
geworden. Sie hat auf breiterer Basis
einsetzen und der berufsmäßigen Architektur
neues Leben zuführen können.

Aber noch ein andrer Gesichtspunkt war
in der englischen Bewegung von Wichtigkeit.
Der praktische, aufs Reale gerichtete
Sinn des Engländers, seine gesteigerten
Ansprüche des Wohnens, die auf
jahrhundertelanger Wohlstandsentwicklung
beruhen, und nicht zuletzt seine Neigung
zur Körperpflege, die die hygienischen
Anforderungen des Hauses an erste Stelle
setzt, sorgten dafür, daß im Hausbau
das gesunde, bequeme und behagliche
Wohnen das alleinige Programm bildete.
Romantische und sentimentale Ideen fanden
keinen Boden. Der Hausbau wurde so ein
durchaus modernes Problem, das heißt, er
<<42>>
ging von den Bedingungen des Gegenwartslebens
aus. Gerade hierin lag die Möglichkeit
für eine neue Entwicklung, hier war der
Impuls gegeben, selbständig vorwärts zu
schreiten und bei aller Schätzung des Alten
doch neue Wege einzuschlagen. Denn neue
Aufgaben können stets nur mit neuen Mitteln
gelöst werden. So ist im modernen englischen
Hause ein verhältnismäßig selbständiges
neues Architekturgebilde entstanden.
Ganz besonders äußert sich dies in der
Ausstattung der inneren Räume. Hier vor allem
sprachen die hygienischen Anforderungen ein
bestimmendes Wort. Die Fortschritte der
Gesundheitswissenschaft forderten Luft und
Licht. Der helle Raum, der von dem Raum
den frühere Jahrhunderte liebten so
grundverschieden war, wurde das Ideal. Das
Reinlichkeitsbedürfnis entfernte alle schweren
Stoffgehänge, ließ an die Stelle dunkler Anstriche
helle, an die Stelle von staubfangendem
<<43>>
Reliefschmuck und architektonischen
Gliederungen glatte ungeschmückte Flächen
treten. Das, was sich in Deutschland in
der Ausbildung des Krankenzimmers der
großen Kliniken vollzog, die vollständig
hygienische Durchbildung des Raumes, war
in England (dem Lande, das im 19.
Jahrhundert in allen hygienischen Fragen die
Führung gehabt hat) ein allgemeiner Vorgang
in der Ausbildung des Hauses und
seines Inhalts.

Ein neues Gestaltungsprinzip wurde hiermit
geboren. Die Fürstenkunst des 18. Jahrhunderts
hatte eine prunkende, auf Schmuckentfaltung
und Repräsentation ausgehende
Zimmerausstattung geschaffen, und diese war
zuerst in äußerlicherer Übertragung auf das
Zimmer des reichgewordenen Bürgers des
19. Jahrhunderts übernommen worden. An
die Stelle dieses prunkenden Zimmers trat
jetzt ein helles, schmuckloses, hygienisches
<<44>>
Zimmer. Hier hatte eine moderne Wissenschaft,
die Hygiene, neue architektonische
Gestaltungsgrundlagen gebracht, geradeso wie
die andere moderne Wissenschaft: die Technik
es auf dem Gebiete der Ingenieurbauten
getan hatte. Und hier wie dort traf es zu,
daß mit den Formen allmählich neue
Konventionen geschaffen wurden. Das Helle,
Glatte, Sanitäre sprach bald auch ästhetisch
an. Der empfängliche Sinn wurde allmählich
von den neuen Räumen in derselben Weise
künstlerisch erregt, wie es der für konstruktive
Vorstellungen empfängliche Sinn von
den Ingenieurbauten zu werden beginnt.
Der helle, luftige, glatte Raum wurde das
Ideal der Behaglichkeit und Schönheit.

In Deutschland tauchten neue Ziele im
Kunstgewerbe erst in den neunziger Jahren
auf. Erst jetzt brach man mit der sentimentalen
Verliebtheit in die Kunst vergangener
Jahrhunderte, die in der strikten
<<45>>
Nachahmung ihre Sehnsucht stillte. Ja,
man bestand jetzt sogar mit einem gewissen
Eigenwillen darauf, neue Formen zu
schaffen, wenn auch anfangs in einer etwas
äußerlichen Weise. Englische Anregungen
spielten dabei eine gewisse Rolle. Aber
doch nahm die kontinentale Entwicklung
sogleich einen anderen Verlauf als die
englische. Das Jahrzehnt von 1895 bis 1905
ist voll des tätigsten, gesteigertsten Lebens.
In raschem Laufe entwickelte sich aus einem
Kunstgewerbe, das zunächst starrköpfig
mit neuen Formen schmückte, eine Kunst,
die bald den Einzelgegenstand als solchen
verließ und strikt auf die Raumgestaltung
ausging. Die einheitliche Durchbildung des
Innenraumes mit seinem gesamten Inhalte
wurde das Ziel. Es ist merkwürdig, wie
rasch dieses Ziel von der einsetzenden
Bewegung erkannt und wie konsequent es
verfolgt wurde. Das Wort Raumkunst ist
<<46>>
heute ein Schlagwort geworden. Unsere
Kunstgewerbeausstellungen sind nicht mehr
wie vor zwei Jahrzehnten Ausstellungen von
geschmiedeten Eisengittern, von Möbeln, von
Metallgegenständen, von Sofakissen, sondern
es sind Ausstellungen von Räumen. Dieser
energische Schritt der neuen kunstgewerblichen
Bewegung verlieh ihr Leben und Bedeutung.
Denn es war der Schritt mitten
in die Architektur hinein. Er bezeichnete das
Verlassen der früheren Sonderstandpunkte,
und stellte die wirklichen Fähigkeiten derer,
die die Bewegung führten, auf die Probe,
ob sie der Aufgabe unserer Zeit gewachsen
wären.

Diese Aufgabe unserer Zeit kann nur
das Wiederfinden der Architektur sein.
Der Architektur in jenem allumfassenden,
unser ganzes Leben durchdringenden Sinne,
der dem Begriffe bei den Griechen eigen
war und den auch das Mittelalter, wenngleich
<<47>>
weniger bewußt, teilte. Mit dem Anschnitt
der Kunst des Innenraumes hat das
moderne Kunstgewerbe das architektonische
Problem an der Wurzel gefaßt. Denn hier
galt es, den ursprünglichsten und echtesten
Aufgaben gerecht zu werden, die die
Architektur stellt: der Raumbildung. In der
architektonischen Berufsausübung war der Sinn
von der Raumbildung mehr und mehr
abgelenkt worden auf die plastische Bildung des
äußeren Bauwerkes. Die Wiederholung der
Stile, der die Architektur obgelegen hatte,
hatte hierzu noch besonders verführt. Der
Raumgedanke liegt jedoch tiefer als die
plastische Durchbildung einer Fassade. Zeiten
hoher baukünstlerischer Blüte, wie die
römische Baukunst mit ihrem kühnen Gewölbebau,
die byzantinische Baukunst mit ihren
Kuppelbildungen und die mittelalterliche
Baukunst mit ihren zwischen aufragenden Stützen
hängenden Fensterwänden, waren sich dieses
<<48>>
innersten Grundsatzes der Architektur
bewußt. Jene Zeiten waren recht eigentlich
und im Grunde ihres Wesens Zeiten der
Raumbildung.

Sicherlich kann man die bescheidenen
Anfänge dessen, was das heutige
raumbildende Kunstgewerbe will, nicht mit
jenen großen Zeiten in Vergleich stellen,
aber derselbe Grundton ist wieder berührt,
der richtige Ausgangspunkt wieder
gefunden. Auch die rhythmische Grundtendenz
des architektonischen Bildens steht
bei diesen Raumschöpfungen wieder scharf
im Vordergrunde. Die Proportionierung,
das Ebenmaß der Glieder, die Reihung
gleicher Teile, die Einheit in Form und
Farbe sind wieder wichtigere Gesichtspunkte,
als die eklektische Zusammenstellung
historischer Architekturmotive, der wir
zuletzt obgelegen haben. Der strenge Rhythmus
ist geradezu zum Leitsatz geworden.

<<49>>

Ja, die eiserne Konsequenz, mit der er oft
verfolgt wird, trägt vielleicht am meisten
dazu bei, die Räume für den Laien, dem
noch das disziplinierte Architekturgefühl
abgeht, oft fremdartig und sogar unsympathisch
erscheinen zu lassen. Die Räume von Peter
Behrens, dem Wiener Josef Hoffmann und
dem Schotten Mackintosh zeigen eine
rhythmische Strenge, die der Beschauer oft als
einen Zwang und daher als Unbequemlichkeit
empfindet.

Äußern sich so im heutigen Kunstgewerbe
bereits starke architektonische Triebkräfte, so
leisten glückliche Nebenumstände der neuen
architektonischen Bewegung erwünschte
Hilfsdienste. Auch in Deutschland hat seit
zehn Jahren eine starke Bewegung im
Wohnhausbau, namentlich im Bau des Einzelhauses
eingesetzt. Freilich wurde diese Hausbaukunst
zunächst noch mit dem alten Apparat
der zünftigen Stilarchitektur ausgeübt. Im
<<50>>
Vordergrunde stand noch durchaus das Repetieren
von historischen Architekturformen und
die Zusammenstellung sogenannter malerischer
Architekturgruppen. Indessen ist auch
hier in jüngster Zeit ein Wandel eingetreten;
durch das Erkennen der Schönheit der alten
ländlichen und kleinbürgerlichen Häuser, mit
denen unsere Landstädte und Dörfer noch
reichlich besetzt sind, ist der Sinn auf das
Natürliche, Trauliche und Wohnliche hingelenkt
worden. Die alten Architekturmanöver
haben dadurch eine Entwertung erfahren.
Eine junge Generation ist im Begriffe, auf
einfache, vernünftige Gestaltung das
Hauptgewicht zu legen. Hier wirkt reinigend das
Vorbild einer Zeit, die den Aufwand infolge
natürlicher Beschränkung vermied, während
in England mehr die praktischen
Erfordernisse des Tages von der Stilarchitektur
abdrängten.

Das Problem der Zeit ist die Verschmelzung
<<51>>
der innenraumbildenden Grundsätze des
Kunstgewerbes mit der vereinfachten
Gestaltung der neueren häuslichen
Architekturbewegung. Die jüngere Generation, auf
welche die beiden, jetzt noch vielfach getrennt
gehenden Bestrebungen einwirken,
hat die Aufgabe, diese Verbindung vorzunehmen.
Geschieht dies, so gehen wir einer
geläuterten, von reinem architektonischen
Streben getragenen nationalen Hausbaukunst
auch in Deutschland entgegen.

Aber auch auf solchen baulichen Gebieten,
auf denen das moderne Kunstgewerbe bisher
wenig oder gar nicht mitgesprochen hat,
sind neuerdings in Deutschland große
Entwicklungen eingetreten. Es sei nur an den
Bau von Geschäfts- und Warenhäusern
erinnert, in dem Deutschland allen andern
Völkern schöpferisch vorgearbeitet hat und
eine glänzende Sonderstellung einnimmt.
Hier macht sich mit Vorteil ein Einschlag
<<52>>
jenes neuartigen Ingenieurbaugeistes
bemerkbar, der als Kind des 19. Jahrhunderts
in das bauliche Gestalten eingetreten ist.
In gleicher Weise haben es in den Verkehrsbauten,
den Bahnhöfen, den Markthallen,
den Versammlungshäusern moderne
Bedingungen vermocht, moderne Bautypen zu
schaffen, hauptsächlich deshalb, weil hier
der Architekt gar nicht anders als selbständig
vorgehen konnte, und weil der Basiliskenblick
der alten Kunstvorbilder hier nicht
erstarrend auf ihn wirkte.

Diese neuartig gestalteten Bauten dienten
neuen Bedürfnissen, sie dienten dem im
19. Jahrhundert zu rapider Entwicklung
gelangten Verkehr. In den Bedürfnissen des
Verkehrs sehen wir diejenige gestaltende Idee,
die die Baukunst heute vorzugsweise in ihren
Dienst nimmt. Es liegt kein Grund vor,
dem modernen gesteigerten Austausche den
Einfluß auf die Architektur abzusprechen,
<<53>>
mag dieser Antrieb auch profaner erscheinen
als die Ideen, die früher die Architektur in
Tätigkeit setzten. Sicherlich hat der Austausch
dem baulichen Gestalten unserer Zeit die
wichtigsten und räumlich größten Aufgaben
zugeführt. Unser glänzender wirtschaftlicher
Aufschwung liefert die Grundlage für die hier
erwachsenden Probleme und hat zunächst
auf diesem Spezialgebiet der Baukunst eine
fieberhafte Tätigkeit hervorgerufen, die
ihrerseits wieder andre Zweiggebiete mitreißt
und auch in ihnen neues Leben erweckt

Aus der Reihe derer, die dieser gesteigerten
modernen Bautätigkeit obliegen, ragen Namen
hervor, die nicht nur unter den Zeitgenossen
einen guten Klang erlangt haben, sondern
die wahrscheinlich auch in der späteren
Architekturgeschichte als die Repräsentanten
einer neuen Blütezeit der deutschen
Baukunst gelten werden. Der Umstand allein
schon, daß heute bei uns Architektennamen
<<54>>
wie Alfred Messel, Bruno Schmitz, Theodor
Fischer, Ludwig Hoffmann volksbekannt
geworden sind und neben den Namen berühmter
Vertreter aus den Gebieten der Literatur
und Malerei (den bisherigen künstlerischen
Interessensphären des Publikums)
genannt werden, beweist, daß die Architektur
aus einem Zustande der Vergessenheit
heraustritt und wieder zu einer Volksangelegenheit
wird. Sie ist in der Tat jetzt im
Begriffe, im Bewußtsein der Nation wieder
ihren Platz zu erobern.

Freilich darf das reichliche Vorhandensein
solcher Lichtpunkte noch nicht zu dem
Glauben veranlassen, daß wir nun schon
eine nationale Architektur hätten. Was uns
davon noch weit entfernt hält, ist der noch
heftig vor sich gehende Kampf um die
Ausdrucksform. Es handelt sich dabei
nicht um den landläufig angenommenen
Gegensatz des sogenannten modernen Stiles
<<55>>
zu den historischen Stilen. Von den
Nachahmungen historischer Stile kann in einer
ernsthaften Betrachtung abgesehen werden,
nur schöpferische Werke, die aus unserer
Zeit heraus geboren sind, kommen in Frage.
Wohl aber spielt sich ein Kampf um die
Ausdrucksform insofern ab, als sich heute
ein scharf ausgesprochener Individualismus
dem Entstehen einer Tradition zu
widersetzen scheint. Das Wort Tradition bedarf
hier einer näheren Erörterung. Es wird
heute häufig im Sinne der Wiederaufnahme
vergessener Kunstausübungen gebraucht,
obgleich die ursprüngliche Bedeutung des
Wortes dabei direkt in das Gegenteil
verkehrt ist. Tradition heißt mündliche
Überlieferung, bedeutet also etwas Lebendiges
und kann sich auch in der Kunst nicht
auf die versuchte Einführung erstorbener
Ausdrucksformen beziehen. Eine Tradition
kann nur in der Weitergabe bestehender
<<56>>
Kunstweisen erblickt werden, also in der
Durchbildung und Ausbildung des heute
Üblichen. Wiedererweckte alte Ausdrucksweisen
können zu einer neuen Tradition
führen, wenn die Zeit genug Selbständiges
hinzugibt, wie es in der Renaissancebaukunst
der Fall war. Für die Wiederaufnahmen im
19. Jahrhundert ist aber gerade ihre kurze
Dauer, die sie zu vorübergehenden Moden
stempelte, charachteristisch [!] gewesen, ein
Beweis dafür, daß der eigentliche Nerv der
Zeit von ihnen nicht berührt wurde. Zu
einer neuen Tradition ist es noch nicht
gekommen. Alles gärt vielmehr noch in einem
wilden Individualismus.

Der Individualismus ist immer das Zeichen
ungeklärter, rastloser, unter der Wirkung
heftiger äußerer Anregung stehender Zeiten.
Epochen mit umstürzenden Tendenzen,
unreife Zeiten zeigen auch in der Kunst das
Bild auseinandergehendster Richtungen. Und
<<57>>
in dem wilden Durcheinander unserer
architektonischen Ausdrucksformen ist vielleicht
das deutlichste Kennzeichen der Unreife
unserer ganzen Kulturzustände zu erblicken.
Ein Gang durch unsere Straßen bringt uns
Häuser in allen sogenannten Stilen und in
den verschiedensten (meist unglücklichen)
Anläufen, Stile zu machen zu Gesicht.
Unsere Villenvororte sehen aus, als hätten
die Völker der verschiedenen Erdteile, wie
auf einer Weltausstellung, ihre nationalen
Bauweisen illustrieren wollen. Aber
entsprechend der Buntheit des Bildes sind
wenige der Häuser überzeugend. Sie haben
etwas Rasseloses und erinnern an schlechte
Hundekreuzungen. Sie sind regellos, wie
fast alle unsere heutigen Ausdrucksformen,
ganz im Gegensatz zu den Ausdrucksformen
früherer Zeiten, in denen die Architektur,
die gewerblichen Künste, die Umgangsformen,
die Kleidung, kurz jede Äußerung
<<58>>
unserer Lebensweise und unseres Bildens
durchaus einheitlichen Charakter trugen.
Vielleicht ist heute unser Anzug die einzige
Äußerung, in der wir feste Formen haben,
hier herrscht sogar eine internationale
Gleichmäßigkeit, sodaß derselbe Rockschnitt und
dieselbe Blusenform über den ganzen
Erdball getragen wird. Aber es ist, als seien
wir in der Festsetzung der Ausdrucksform
noch nicht über unsere körperliche
Umgebung hinausgekommen. Die neue
kunstgewerbliche Bewegung hat in heftigem
Auf und Ab krampfhafte Versuche gemacht,
zeitgemäße Ausdrucksformen zu finden und
sogar auch eine gewisse Einheitlichkeit
erzielt. Aber in der Architektur liegt die
Hoffnung auf die Erlangung einheitlicher
Ausdrucksformen noch in der Zukunft, der
Zustand einer Gleichmäßigkeit läßt sich
heute nur vorausahnen.

Und doch ist die Einheitlichkeit im Ausdruck
<<59>>
die unbedingte Voraussetzung dafür,
daß wir zu einer nationalen Baukunst
gelangen. Denn nur auf der Grundlage
einheitlicher Ausdrucksformen lassen sich
zwei Bedingungen erfüllen, die für eine
nationale Architektur unbedingt vorhanden
sein müssen. Auf der einen Seite ist es
nur mit ihnen möglich, einen Typ durch
fortgesetzte Arbeit zu vervollkommnen, und
so der schließlichen Vollendung entgegenzuführen.
Die Baukunst Griechenlands mit
ihren für unsere heutigen Vorstellungen
unbegreiflichen Verfeinerungen (es sei nur
an die Krümmungen der Säulenschäfte und
die Kurvatur der Architrave erinnert), die
Gotik mit ihren raffinierten Konstruktionsfeinheiten,
sie waren nur möglich auf dem
Boden eines durchaus einheitlichen Strebens,
an dem Generationen beteiligt waren[.]
Nie werden wir irgend eine Veredlung und
Verfeinerung mit derjenigen Zersplitterung
<<60>>
erreichen, die im 19. Jahrhundert gerade auf
dem Gebiete der Architektur obgewaltet hat
und heute noch obwaltet. Sodann aber
bietet auch die einheitliche Ausdrucksform
die einzige Gewähr dafür, daß auch kleinere
Geister erträgliche Leistungen hervorbringen.
Es genügt für den Stand der Baukunst eines
Volkes nicht, daß, wie es augenblicklich
in Deutschland der Fall ist, eine kleine
Reihe allererster Baukünstler vorhanden ist
und fruchtreich wirkt. Die Leistungen dieser
Baukünstler verschwinden zu sehr in der
Masse von Minderwertigem, mit dem die
abhängigen Naturen das Land besetzen.
Nur die einheitliche Form auf der ganzen
Linie kann diese Übelstände beseitigen. Nur
die Organisation der Gesamtarbeit auf
formal-einheitlicher Grundlage kann den Befähigten
wie den Minderbefähigten auf seinen Platz
stellen.

Das Sehnen unserer Zeit ist auf vielen Gebieten
<<61>>
auf die Erlangung geläuterter Lebensformen
gerichtet. Der großen Arbeit technischer
und wissenschaftlicher Art, die im
19. Jahrhundert unsere Kräfte in Anspruch
nahm, ist eine mehr verinnerlichende
Bewegung zu folgen im Begriff, die sich unserer
eigentlichen Lebenswerte wieder erinnert und
die Disharmonie zwischen unserer äußeren
Bereicherung und unserer inneren Verarmung
zu beseitigen wünscht. Denn in der
Schaffung der materiellen Grundlagen für das
Leben kann immer erst die Vorarbeit für
eine Kultur erblickt werden. Diese Kultur
einer neuen Art aufzubauen ist die Aufgabe,
vor der wir jetzt stehen. Es handelt sich
darum, auf der neuen Basis unserer Zeit
jene Harmonie, jenes Gleichmaß, jene feste
Ordnung in unseren Sitten und Gewohnheiten
wieder zu erlangen, die wir an den
alten Kulturen bewundern. Rhythmus und
Ebenmaß sind die Bedingungen jeder
<<62>>
Harmonie, sie müssen auch in unsere
Lebensgewohnheiten wieder ihren Einzug halten,
wenn wir zu einer harmonischen Kultur
durchdringen wollen.

Nur mit der Hoffnung auf eine solche
neue harmonische Kultur kann sich die
Hoffnung auf eine neue Architektur
verknüpfen. Diese kann nicht bedingungslos
geboren werden aus Formen, die einer
entschwundenen Kultur angehören. Gerade die
willkürlicheAufnahme solcher Formen, machte
uns haltlos. Sie ist aber auch noch nicht
erreicht in den individualistischen
Sonderheiten einer künstlerisch noch so kühn
vorwärtsstrebenden Zeit wie der heutigen. Sie
kann nur das Ergebnis sein einer sorgfältig
entwickelten, in Liebe gepflegten neuen
Tradition, die auf den Grundlagen des heutigen
Lebens aufgebaut ist, an der die ganze
Nation mitarbeitet und die nicht so sehr
artistische Einzelleistungen erstrebt, als die
<<63>>
Durchbildung des guten Typs. Erst dann
wird die Baukunst wieder zur Beherrscherin
der Kunst unserer Zeit werden, erst dann
wird sie zu einem wirklichen Blütezustande
gelangen können. In dieser Stunde sind wir
davon noch weit entfernt. Allein wir sind in
der Entwicklung des neuen Lebenszustandes
doch vielleicht einen Schritt weiter als Carlyle
zu sein meinte, indem er seine Zeit als die
der Geburtswehen des Neuen empfand. Das
Neue ist heute geboren. Es befindet sich
nur noch in wilder Jugend. Aber wo Jugend
ist, da ist Hoffnung. Wir können heute
annehmen, daß wir der neuen Ordnung unseres
Lebens und damit auch der neuen Architektur
festen Schrittes entgegengehen.


tgl, 1.2002